Besonders in krisenhaften Momenten und Phasen unseres Lebens benötigen wir ein Repertoire an Selbsthilfemaßnahmen, um uns zu stabilisieren und unser Befinden zu verbessern. Diesen „Notfallkoffer“ oder seine Gebrauchsanweisung, den „Notfallzettel“, müssen wir in guten Zeiten füllen und die Tauglichkeit der Instrumente immer wieder testen. Der Begriff „Notfall“ ist etwas irreführend, da diese Aktionen ja auch Sinn machen, wenn es uns ganz passabel oder schon gut genug geht. Daher würde ich einen solchen Aktionsplan hier versuchsweise Wohlfühlzettel nennen. Auf jedem solchen Zettel sollten AUCH einige körperbezogene Selbsthilfemaßnahmen stehen und einige Punkte, die sozialen Kontakt beinhalten. Oft sind körperbezogene und soziale Instrumente die wirksamsten: Mich bei jemand aussprechen und von ihm oder ihr sogar in den Arm genommen werden – da geht es mir oft um Klassen besser.
Manchmal ist jedoch niemand verfügbar oder wir fühlen uns nicht in der Lage, entsprechende Kontakte herzustellen. Was dann: Selbstgespräche führen und sich selbst in den Arm nehmen? Gar keine schlechte Idee, jedenfalls besser als nichts. Für Selbstgespräche empfehle ich das therapeutische Tagebuch. Für das „Kuscheln“ mit sich selbst gibt es verschiedene Varianten, etwa sich einkuscheln in entsprechende Decken und mit Wärmflasche oder z.B. duschen mit speziellem (besonders leckerem, besonders schäumendem) Shampoo. Ich habe keine Badewanne, aber ein Vollbad ist auch oft „wirksam“. Ebenfalls ganz ernst gemeint: Mit Tieren kuscheln (und reden :-)). Wenn man das als Plan B sieht, wäre ein „Kuscheltier“ aus Stoff vielleicht Plan C.
Körperliche Zuwendung kann man gegen Geld bekommen, indem man sich z.B. eine Massage gönnt. Für mich war das noch vor zehn Jahren schwer vorstellbar: Zum einen konnte ich nur Menschen, mit denen ich vertraut war, so nah an mich ranlassen. Zum andern, und das hatte vermutlich damit zu tun, empfand ich solche körperliche Zuwendung als zu eng verwandt mit Sexualität. Viele kleine und große Schritte später bin ich froh, dass ich es heute anders erleben kann.
Ich hoffe aufgrund meiner eigenen Geschichte, andere Menschen für Schritte in diese Richtung gewinnen zu können – und weiß doch, dass es nur begrenzt mit intellektueller Einsicht zu tun hat, ob jemand das, was ich hier und heute beschreibe oder bewerbe, „gruselig“, „spooky“ (was das Gleiche ist) oder „abschreckend“ findet: Kuscheln mit Fremden. Für Menschen, die gerade keine Partnerschaft haben, aber auch jene, in deren Partnerschaft das Kuscheln zu kurz kommt.
Kuscheln mit Fremden? Bei vielen ist die Spontanreaktion: „Huch!“ Daher werde ich versuchen, kein Plädoyer zu halten. Das kennen wir nämlich aus der Therapie: Je mehr man den roten Teppich ausrollt (oder meint ihn auszurollen), desto mehr melden sich Ängste und Widerstände bei der oder dem, der über den Teppich gehen müsste. Also werde ich einfach von mir erzählen. Neugierig sind ja viele von Ihnen – und Neugier ist eines der besten Gegenmittel bei Ängsten.
In der Familie meiner Mutter war körperliche Nähe nicht üblich. Mama hat das damit erklärt, dass ihr Vater, also mein Opa, Tuberkulose hatte. Ob das wirklich alles war? Wie es sich in der Familie meines Vaters verhielt, das konnte ich nicht herausfinden. Mein Vater konnte körperliche Nähe – mit Kindern und Katzen. Mit seiner Frau hat er nicht gekuschelt, aber immerhin wir Kids haben etwas abbekommen. „Luft nach oben“ wäre dennoch gewesen.
Vielleicht individuell noch gravierender für mich war, dass ich im Alter von wenigen Wochen eine schwere Lungenentzündung bekam und für Wochen in der Klinik lag. Das hat sich im ersten Lebensjahr nochmals wiederholt. Ich würde sagen, ich habe eine Bonding-Störung. Bonding, das ist die körperlich gelebte enge Bindung zwischen Mutter und Baby (kann auch zwischen Vater und Baby sein, das ist aber immer noch die Ausnahme, schon wegen des Stillens, wenn es denn stattfindet). Körperliche Verbundenheit habe ich vermutlich auch daher später mit Zweierbeziehung und letztlich Sexualität verbunden. Entsprechend unkörperlich oder eher männlich-sportlich fielen z.B. lange Zeit meine Umarmungen aus. Auch in meiner mehr als drei Jahrzehnte gelebten Beziehung mit meiner habe ich das Potenzial des Kuschelns weitgehend liegen lassen. Verrückt? Manche würden sagen: normal! Normal und verrückt sind ja oft Synonyme 🙂
Vor neun Jahren war ich als Patient in einer Psychosomatischen Klinik. Dort habe ich mein mehr oder weniger gestörtes Nähe-Verhalten nicht überwunden, auch nichts ausprobiert, aber mir wurde immerhin klar: Da gibt es noch eine Baustelle … So bekam ich dort z.B. Massage verordnet, wahrscheinlich hieß das offiziell „Einzel-Physiotherapie“, damit es abrechnungsfähig war, und sollte eine Wohlfühlhilfe sein, denn körperliche Beschwerden hatte ich keine. Von vielen Patient*innen wurde das sehr geschätzt, aber ich fand es gruselig, ich konnte mich dabei einfach nicht entspannen. Vor dem Hintergrund dieser und anderer Erfahrungen habe ich danach angefangen, u.a. auf Bonding-Therapie-Wochenenden zu gehen, und auch erste Versuche bei Kuschelpartys gewagt.
Bonding ist eine Therapieform, bei der zwei Menschen klassischerweise aufeinanderliegen, vereinfacht gesagt. Es gibt viele Varianten, aber das ist die „klassische Matte“. Es geht nicht primär um kuscheln, es handelt sich um eine sehr aufdeckende, gefühlsmobilisierende Form von Therapie. Daher braucht es sehr erfahrene Therapeut*innen, die diesen Prozess begleiten und anleiten. Informationen dazu finden sie u.a. auf der Website von Dr. Jochen Zimmermann (Frankfurt/M.), gerne empfehle ich auch das Bonding-Buch von Konrad Stauss. Obwohl es nicht im Kern der Therapie steht, kommt das Kuscheln auf solchen Wochenenden dennoch nicht zu kurz: Die Teilnehmer*innen erfahren meist sehr schnell, wie „nährend“ entspannte körperliche Nähe sein kann und genießen es, nach der „klassischen Mattenarbeit“, Hände zu halten oder sich auf Bauch oder Beinen eines anderen abzulegen.
Der Begriff „Kuschelparty“ kommt aus den USA und wird hierzulande oft missverstanden. Wahrscheinlich wären alternative Begriffe wie Kuschelabend oder Kuschelnachmittag weniger irreführend als „Party“. Meine ersten Erfahrungen auf sog. Kuschelpartys hätte ich vor neun Jahren als „komisch“ bezeichnet. Und es hat ein paar Jahre Pause plus die Trennung von meiner Frau plus einige unterm Strich frustrierende Dating-Erlebnisse benötigt, dass ich einen neuen Anlauf fürs Kuscheln mit Fremden nahm.
Körperliche Nähe ist mit Grenzüberschreitungen verbunden. Daher braucht es Rahmenbedingungen, damit es nicht als bedrohlich oder beklemmend erlebt wird. Bei Kuschelpartys sind dies zum einen die Regeln: kein Sex, kein Küssen, keine Berührung an Geschlechtsteilen und an allen Körperteilen, die Dein Partner ausschließt. Zum andern sorgt ein geregelter Ablauf dafür, dass sich eine zu starke Aufregung und Widerstände soweit lösen können, dass der Prozess zum Genuss wird: Ausgebildete Kuscheltrainer sorgen im ersten Teil für eine angeleitete und spielerische Anbahnung von Körperkontakt, z.B. mit einem Fingerkuppen- oder Rücken-an-Rücken-Tanz oder in dem man als Paar etwas zusammen balanciert.
Es braucht vermutlich doch mehrere Besuche, bis der volle Genuss erlebbar wird. Bei mir war es ab dem dritten Mal zumindest so schön, dass ich wusste, ich komme wieder – und dass ich jedes Mal etwas mehr neugierig war, was ich wohl entdecken würde, ob ich neue Erkenntnisse gewinnen könnte und es mir gelingen würde, etwas von den positiven Erfahrungen mit in den Alltag zu retten.
„Was mache ich denn hier?“ Es gab und gibt immer wieder solche Momente mittendrin. Natürlich fühlt sich nicht immer alles zu 100 % stimmig an, z.B. wenn mir jemand heftig durch die Haare wuschelt, aber ich will ja Erfahrungen sammeln und mich noch besser kennenlernen. Und: Nur weil mir jemand für mein Empfinden etwas zu massiv durch die Haare wuschelt, werde ich ja noch nicht „getriggert“, ich bin nicht vom Friseur traumatisiert worden …, sondern werde daran erinnert, dass ich bestimmen kann, was mir gefällt. Dass ich für meine Bedürfnisse sorgen darf und muss. Meines Erachtens trauen sich viele Menschen, die Kuscheln „spooky“ finden, das einfach (noch) nicht zu. Das spricht nicht gegen sie, es ist gut, wenn sie für sich sorgen und nichts einfach mitmachen, aber es spricht auch nicht gegen das Kuscheln.
Im Grunde ist gutes Kuscheln einfacher als sich gut zu unterhalten. Das kann ich sogar auf Kuschelpartys feststellen. Wenn ich mir überlege, wie viel Erfahrung ich mit Kommunikation habe, und schwierig es dennoch ab und zu ist, ein wirklich gehaltvolles und bereicherndes Gespräch zu führen – und wie schnell ich demgegenüber das Kuscheln zumindest soweit gelernt habe, dass ich viel Freude und Genuss erfahren kann! Wir haben offenbar ein biologisches Programm dafür, dass mehr oder weniger nur freigelegt werden muss. Aber klar, es bleibt ein Überschreiten von alltäglichen Grenzen und ein in mehrerer Hinsicht (glücklicherweise) aufregendes Experiment. Dazu muss ich zunächst in der Lage sein, Aufregung nicht als per se bedrohlich zu erleben, d.h. auch: Ich lade hiermit nicht jede Patientin und jeden Patienten dazu ein, es mal einfach so zu versuchen!
Ich bin immer noch ein sehr kopflastiger, intellektueller Typ. Sich beim Kuscheln mit Fremden auf „Chemie“ und Intuition zu verlassen, ohne irgendetwas von ihm oder ihr zu wissen, das ist herausfordernd. Und großartig, ja echt, eine fast spirituelle Erfahrung: Mit manchen Kuschelpartnern würde ich nicht so leicht oder gar nicht kuscheln, wenn ich viel über sie wüsste. Aber hier ist der „Check“ nicht nötig: ob alles oder möglichst vieles passt. Vieles muss eben nicht passen, solange Menschlichkeit, Achtsamkeit und unverbindlicher Genuss im Vordergrund stehen und wir im Hier und Jetzt bleiben. Nähe entsteht durch Nähe.
Ich glaube, am liebsten hätte ich nach wie vor eine feste Kuschelpartnerin. Und dabei würde ich ja Schritt für Schritt mehr über sie erfahren und, statistisch gesehen, vermutlich feststellen, dass wir nicht zusammenpassen für eine feste Beziehung. Oder ich würde sie mir vielleicht doch als Beziehungs- und auch Sexualpartnerin wünschen? Also gehe ich weiter auf Kuschelpartys. Was ich beim Bonding schon erlebt habe, bestätigt sich hier: So kuschele ich z.B. gerne auch mit Männern, obwohl ich mir Sex mit Männern nicht vorstellen kann.
Nochmals, Kuscheln und Sex, trotz möglicher Schnittmengen, das eine muss nichts mit dem anderen zu tun haben! Ich kann mit jemand eine halbe Stunde oder mehr kuscheln, ohne dass es entweder erotisch-sexuell oder aber langweilig wird, es ist einfach schön. Natürlich kann sich in Situationen doch das eine oder andere Gefühl einstellen – und dann müssen wir damit umgehen (lernen). Wichtig ist zunächst einmal, dass wir die Zwangsverbindung von Kuscheln und Sex lösen.
Es kann vorkommen, dass ich danach ein bisschen verwirrt nach Hause gehe: Vielleicht wurden doch weitergehende Wünsche und Phantasien ausgelöst bezüglich eines bestimmten Kuschelpartners. Und in den Tagen danach ist nicht nur das wohlige Gefühl erinnerbar, sondern es spult sich zudem mancher Film aus meinem Schatz an Projektionen ab. Aber auch das schönste Kuschelerlebnis ist zunächst einmal weder eine Beziehungsanfrage noch ein Beziehungsangebot. Und Verwirrung ist oft produktiv.
Kuscheln lernen – kann man das so sagen? Ich finde schon. Vermutlich sind vor allem unsere Assoziationen mit dem Begriff „lernen“ etwas kontaminiert durch Leistungsdruck, Perfektionismus und den inneren Kritiker. Ich habe aber für mein Gefühl einiges gelernt, u.a. die Sinnlichkeit in körperlichen Berührungen mehr und mehr zulassen zu können, weil weder Schlimmes noch Gefährliches passiert. Ich lerne in solchen Erfahrungen, was manchmal ganz einfach möglich ist. Aber auch, so widersprüchlich das klingen mag, welche Ansprüche ich an mich und andere im nahen Kontakt habe, z.B. in Bezug darauf, wenn ich mal wieder eine Partnerin finden sollte: Was ich mit „Fremden“ kann, das sollte doch mit der Liebsten auch möglich sein. Sonst müsste ich ja weiterhin „nebenbei“ zum Kuscheln gehen. Tja, warum eigentlich nicht? Yes, why not! Andere gehen auch mit „Fremden“ tanzen, weil der Partner keine Lust dazu hat.
PS. Ich werbe hier voller Überzeugung für das Kuscheln, was aber nicht heißt, dass es für jede(n) und in jeder Lebensphase das Richtige ist. Kuscheln hat zweifellos „therapeutische“ Effekte, ersetzt aber sicher keine Therapie im engeren Sinn. Stabilität, Selbststeuerung und ein Mindestmaß an Selbsterfahrung im therapeutischen Sinn werden nach meinem Verständnis vorausgesetzt. Insofern, falls Sie sich nicht sicher sind, führen Sie vorab ein Gespräch mit einer/m Kuscheltrainer*in und, sofern vorhanden, mit ihrem Therapeuten.