M wie mutterseelenallein

Auch im zweiten Blog des Monats Oktober versuche ich mich an einer Traumdeutung oder nein, das ist zu hoch gegriffen, sagen wir, ich lasse meinen Assoziationen zu zwei eigenen Träumen mehr oder weniger freien Lauf. Seit mir eine Kollegin das Buch „Die Weisheit der Träume“ von Brigitte Berger empfohlen hat, kann ich mir manche Träume leichter merken – vermutlich einfach deshalb, weil ich mir mehr Mühe gebe. Zu der bekannten These, dass es sich bei allen in einem Traum auftretenden Akteuren um eigene Anteile des Träumers handelt, fügt Brigitte Berger die Annahme hinzu, dass alle Träume einer Nacht zusammengehören. Darauf werde ich zurückkommen. Frau Berger meint sogar festgestellt zu haben, dass es im Verlauf von Träumen (auch von Träumen einer Nacht) eine Logik gibt: von Bildern für das Problem am Anfang des Traums oder der Träume geht es mehr und mehr zu Bildern für die Lösung.

Traum 1: Ich liege im Bett (also auch im Traum). Eine Kollegin sitzt am Bettrand wie eine Mutter. (Es ist die Kollegin, die mir das Buch empfohlen hat.) Sie fragt mich: „Warum willst Du überhaupt etwas tun, zu dem Du Dich dermaßen zwingen musst?“ Ich antworte: „Ich habe mich schon oft zu etwas gezwungen, was dann gut wurde.“ Sie verabschiedet sich, steht auf. Ich möchte schnell hinterher und versuche, schwungvoll aufzustehen. Als ich das Schlafzimmer verlasse, steht im Flur ein einsamer Elefant. Er hat schon viel auf den Boden geschissen. Ich bin mir sicher, dass er mich vor Angst niederrennen würde. Ich springe ins Auto (ja, da steht ein Auto im Hausflur), rase den Flur hinunter und durch eine Art Pforte, die sich gerade noch rechtzeitig hinter mir schließt, bevor der Elefant ankommt. Ich wundere mich, dass dieser sich von solchen einem „Törchen“ aufhalten lässt. Dann bin ich sofort traurig, dass ich mich so verhalten habe: Ich habe ihn im Stich gelassen.

Jetzt wache ich auf – und bin tatsächlich traurig, über den Elefanten, dem ich nicht erklären kann, dass auch ich Angst hatte, über den Elefanten, dem man im Grunde gar nichts erklären kann. Komischerweise denke ich im Halbschlaf: „Vielleicht könnte ein Elefantenversteher das schon, es ihm erklären.“ In dem spannenden Kriminalroman „Der rosa Elefant“ von Martin Suter gibt es einen solchen Elefantenversteher. Aber ich bin gedanklich schon zu Mira gesprungen, zu meinem Hund, der bei meiner (Ex-)Frau lebt: dass Mira nicht gern länger alleine ist, seit der Trennung noch weniger, dass ich mit ihr nicht reden und ihr nichts erklären kann, dass sie im Frühsommer zuerst nicht (mehr) in mein Auto springen wollte … und dass sie irgendwann gar nicht mehr da sein wird.

Dann denke ich an Kleinkinder, die noch nicht reden und verstehen können, an mein frühes Ich, das ohnmächtig und sprachlos war. Und jetzt fühlt es sich manchmal noch so an, ich kriege keinen Ton raus, wenn es darauf ankommt. Zur ohnmächtigen Mächtigkeit bzw. mächtigen Ohnmacht des kleinen Kindes in uns passt das therapeutische Märchen „Der angekettete Elefant“ von Jorge Bucay: Der große, erwachsene Elefant traut sich nicht zu, seinen Weg zu gehen, weil er als kleiner Elefant, als er viel schwächer war, die Kette, die ihn festhielt, als zu stark erlebt hat. Der innere kleine Elefant ist mächtiger als der reale große, erwachsene. In meinem Traum ist es keine Kette, sondern ein lächerliches Törchen, eine Pforte, die den Elefanten abhält.

Erwachsen werden im Sinne der Therapie heißt zu erkennen, dass man nicht mehr der kleine Elefant ist, Verantwortung zu übernehmen und loszugehen. Bucays Geschichte endet mit dem Motto: „Wie es wirklich ist, bekommst Du nur raus, wenn Du es mit aller Kraft versuchst.“

Schon das Aufstehen vom Bett hat etwas von Erwachsenwerden, zumal gerade die Frau, die wie eine Mutter an meinem Bett saß, sich verabschiedet hatte. Ja, ich bin doch schon groß, ich muss es selbst schaffen. Ist das der Zwang, nach dem sie fragte? Ich zwinge mich, erwachsen zu sein und dann wird es schon gut? Doch schwungvoll aufstehen und sich erwachsen verhalten sollte nicht bedeuten, das innere Kind im Stich zu lassen, abzuschütteln, nichts von ihm wissen wollen, nicht mit ihm reden – denn dann taucht es als sprichwörtlicher „Elefant im Raum“ wieder auf: Wenn ich den Kontakt mit dem inneren Kind verweigere, stellt es sich in den Weg, droht auszurasten, mich zu überwältigen. Wenn ich kein Elefantenversteher bin, bleibt mir nur die Flucht: ihn oder es im Stich zu lassen.

Zu der Startszene am Bett und der Frage meiner Kollegin bzw. Mutter nach dem Zwang fallen mir noch verschiedene Verbindungen ein: Zum einen war das letzte Großprojekt, zu dem ich mich richtig gezwungen habe, die Gründung und Führung des Naturheilverein Taunus, das habe ich – obwohl meine eigene Idee – eher als eine Pflicht erlebt (vor allem wegen der Verantwortung und den Versagensängsten), damals vor zehn Jahren. Und jetzt, am Abend vor dem Traum, haben wir in der Mitgliedersammlung seine Auflösung beschlossen, insofern ist das schon naheliegend.

Zum andern kann der Elefant Symbol für alles Mögliche sein, natürlich auch mal wieder: für die männliche Sexualität. Seit ziemlich genau einem Jahr lerne ich über zwei Partnerbörsen Frauen kennen, das könnte man ja auch als das Erzwingen von etwas sehen, das andere dem Lauf der Dinge überlassen: Beziehungen und Partnerschaft. Ich sehe es nicht so, weder in Bezug auf moderne Partnerschaftsanbahnung noch sehe ich den Elefanten als sexuelles Symbol (noch sehe ich mein Verhalten als zwanghaft), eher den Elefanten als Symbol für tiefe Emotionalität, ähnlich wie Hunde; aber ich will die mögliche „intime“ Bedeutung des Traums nicht prinzipiell ausschließen.

Zuletzt ist mir noch eingefallen, dass vor zwei Monaten nicht meine Mutter an meinem Bett saß, sondern ich an ihren – und sie sich zum Sterben gezwungen hat, damit „es endlich gut ist“. Dass die Angst vor dem Tod eine oder gar die Urangst ist.  Und ich nicht wirklich davonlaufen kann bzw. es kindisch wäre …

Traum 2: Es klingelt. Vor der Tür steht ein Mann, der sich als Mitbewohner vorstellt, er sei Schriftsteller und sei vor einiger Zeit von meinen Vermietern „aufgenommen“ worden, die Wortwahl finde ich merkwürdig. Die Vermieter seien nun verreist und hätten ihm gesagt, dass ich ihn reinlassen könnte. Ein „brotloser Künstler“, denke ich, wie ich ihn mir so ansehe, schäme mich aber auch ein wenig für diese Abwertung. Wohl ist mir jedenfalls nicht dabei, ihn hereinzulassen. Warum haben meine Vermieter mich nicht informiert – über die Reise und über diesen speziellen Mieter? Ich gehe mit ihm ums Haus herum zum Haupteingang. Beim Eintritt stelle ich fest, dass die Wohnung der Vermieter komplett ausgeräumt ist, die Wände sind abgeklopft, der Boden aufgerissen, es ist alles wüst, aber weiß, als wäre überall schon Farbe darüber gekippt worden. Ja, sagt der seltsame Mitbewohner, es solle in der Abwesenheit der Vermieter gründlich renoviert werden. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man das wieder hinbekommen kann, fühle mich überwältigt, ohnmächtig. Nochmals stellt sich mir die Frage: Warum haben sie mich nicht informiert? Und: Wie komme ich jetzt in meine Wohnung? (Ich kann mich offenbar im Traum nicht daran erinnern, dass ich nur ums Haus herumgehen muss.) Ich muss anscheinend dafür über die aufgerissene Bodenfläche gehen.

Ich wache auf – in meiner Wohnung. Ein paar Elemente des Traums kommen mir bekannt vor bzw. es stellen sich dazu sofort Assoziationen ein: Vor der Tür stand vor wenigen Tagen ein Gemüseverkäufer. Es war Samstag früh, ich hatte ausgeschlafen, war noch im Schlafanzug – und hatte Angst vor dem Mann, der dafür eigentlich gar keinen Anlass bot. Ich sagte kurz, ich bräuchte nichts (dabei hätte ich z.B. Meerrettich, den er anbot, gut gebrauchen können), und dass sich um die Ecke der Eingang der Vermieter befinde. Im Nachhinein war mir das ziemlich peinlich, ich habe mich vor mir selbst geschämt – zur Scham braucht es ja nicht zwingend ein Gegenüber, wenn man die eigenen Ideale verletzt. Irgendwie habe ich mich auch selbst weggeschickt. Denn der brotlose Künstler erinnert mich an den „Schriftsteller“ in mir: Ich hatte vor etlichen Jahren zwei Bücher geschrieben (über Homöopathie und Makrobiotik), keinen Verlag gefunden, sie im Selbstverlag herausgegeben, das war zwar schön, ich habe es nicht als Niederlage, sondern als Erfolg erlebt, aber man könnte es auch anders sehen. Und jetzt? Jetzt schreibe ich einen „brotlosen“ Blog, just for fun (?), das Schreiben ist ein Hobby geworden, so wie früher, da ich als Journalist arbeitete, die Therapie ein Hobby war. (Für manche Leser mag Hobby verniedlichend bis abwertend klingen, ich bin mir nicht sicher, ob ich das so meine, ich habe es oft auch als „Ehre“ erlebt, Heilpraktiker zu sein.)

Warum haben mich meine Vermieter nicht informiert? Dabei denke ich sofort: Aha, eine Projektion! Ich habe am vergangenen Wochenende meine Vermieter anders als sonst nicht darüber informiert, dass ich weg bin – sonst hatte ich stets Bescheid gegeben, für alle Fälle. In den letzten beiden Monaten (seit dem Tod meiner Mutter) fällt mir mehr und mehr auf, wie sehr ich mich hier zu Hause fühle. Ein Zuhause hat tendenziell immer mütterlichen Charakter, das geht auf die frühe Kindheit und letztlich auch auf die Existenz in der Gebärmutter zurück. Ich habe mich in meinem Leben oft heimatlos gefühlt, als junger Mann länger damit gehadert, dass ich freiwillig-unfreiwillig direkt nach dem Abitur die Heimat fluchtartig verlassen habe. Heute noch gehe ich stark in Resonanz, wenn etwa Songs von Heimatlosigkeit und Heimatsuche erzählen, z.B. „Vagabund“ von Bosse. Aber vielleicht ist die Heimatlosigkeit etwas viel Älteres als das spätpubertäre Problem des Erwachsenenalters, eine frühe Störung in der Beziehung zur Mutter und zum Zuhause. Und „der Kleine“ weiß oder fürchtet, dass er die Mama informieren muss, wenn er abends später oder gar nicht kommt. Oder: Er wünscht sich, dass es der Mama nicht egal ist, wo er sich rumtreibt! Wie man heute sagt: dass sie ihn auf dem Schirm hat. Das kann doch nur der liebe Gott – und an den muss man erstmal glauben.

Was verbindet die beiden Träume dieser Nacht? Mir kam sofort eine Idee, nein, ein Begriff schoss mir durch den Kopf: „mutterseelenallein“. Geht es um die Angst, das Zuhause zu verlieren? Das ist nicht so real. Oder vor Einsamkeit, mal wieder? Auch nicht sehr plausibel, derzeit. Aber dann fällt mir noch ein, dass ich kürzlich Angst hatte, mein Job sei in Gefahr, wo doch meine Arbeit so etwas wie ein zweites Zuhause für mich ist – schon oft haben Kollegen darüber Scherze gemacht, dass ich da „wohne“, ich selbst auch.

Die zweite Verbindung zwischen beiden Träumen scheint mir die (Angst vor der) Scham, sich kindlich oder kindisch zu verhalten. Bei Therapeuten ist die Frage beliebt: „Wie alt fühlen Sie sich gerade?“ Ich will dazu stehen, dass auch bei mir manchmal kindliche Anteile viel Stimmrecht im inneren Parlament beanspruchen. Je älter ich werde, desto mehr komme ich offenbar meinem Kleinen „auf die Schliche“, oder es liegt nicht am Alter, sondern daran, dass ich einiges an Therapie gemacht habe und viel Innere-Kind-Arbeit mit Patienten mache und mich wiedererkenne. Jedenfalls komme ich dem Kleinen nicht „auf die Schliche“, um ihn fertig zu machen, sondern um für ihn oder es besser zu sorgen!

Brigitte Berger ist der Ansicht, dass Träume fast immer Mutmacher sind 🙂 So will ich es für heute mal sehen. Prinzipiell finde ich, die (am Anfang genannten) Thesen zur Traumdeutung von ihr sind hilfreich, aber eben nur als Arbeitshypothesen. Sie treffen – selbstverständlich – nicht immer zu. Entscheidend ist die Gefühswelt des Traums: mit welchen Gefühlen und Assoziationen sie der Träumende im Wachzustand verbindet. Ich hatte an diesem Morgen danach noch einige weitergehende Traum-Assoziationen, die zu meiner Gefühlswelt der Nacht gepasst hätten, die kann oder will ich hier aber aus Gründen des Persönlichkeitsrechts nicht äußern.