N wie Norm(al)

„Die Moral mit all ihren Regeln und Empfehlungen hat uns keinen Schritt weitergebracht. Im Gegenteil: Sie hat unsere Egozentrik verstärkt und damit viel Unheil über die Menschen gebracht.“ (Willigis Jäger, Perlen der Weisheit, Freiburg i. Br. 2010)

Menschen brauchen Normen für ein friedliches und produktives Zusammenleben. Und es ist gut, dass es im gesellschaftlichen Leben so etwas wie Tabus gibt: Dinge, die man nicht sagt oder tut. Doch in der Therapie müssen wir Patienten nicht selten zu helfen versuchen, sich von der Überanpassung an Normen zu befreien und gewissermaßen tabufrei zu denken: Sie müssen sich vorstellen lernen, wie es sein könnte, für die eigenen Bedürfnisse einzustehen. Wer das lernt, der oder die wird hinterher garantiert nicht zum Egoisten und amoralischen Menschen, dem Normen und Tabus egal sind.

In der Tiefe unserer Seele tobt der Grundkonflikt zwischen Impulsen und Bedürfnissen einerseits und erworbenen Werten und Normen andererseits, oder in der Sprache S. Freuds: der Konflikt zwischen Es und Über-Ich. Vielleicht tobt er auch gar nicht mehr, vielleicht wurde er weitgehend befriedet, aber zu einem hohen Preis. Viele Menschen mit wiederkehrenden Depressionen leben zu stark auf der Seite der Normen und Werte, im wahrsten Sinne des Wortes überangepasst, und irgendetwas in ihnen wartet gewissermaßen trotz lebenslänglicher Gegenbeweise immer noch darauf, dass auf diesem Weg der Überanpassung das Gute passiert. Da es aber nicht passiert, geraten sie mehr und mehr in eine Art Jammerhaltung: „Wenn sich nur die anderen (oder gleich die ganze Welt) mehr an Werte und Normen halten würden, dann wäre alles viel besser.“ In der Therapie müssen sie umlernen und sich selbst um ihre Bedürfnisse kümmern. Da gibt es kein Pardon. Und der Therapeut sollte auch nicht in die übertragene Papi-Rolle annehmen und irgendetwas in der Art regeln, dass ihnen dieser Schritt des Erwachsen- und Autonom-werdens abgenommen wird. Hilf Dir erstmal selbst statt immer anderen!

Im Kern geht es also bei der Therapie von vielen Patientinnen mit Depressionen darum, die Bedürfnisse spürbar zu machen und besser dafür eintreten zu lernen, d.h. Konflikte im Außen und im Inneren in Kauf zu nehmen. Diese Menschen haben gelernt, zu sehr auf der Seite der Normen zu leben, und erwarten es manchmal ganz schön verbittert, dass andere Menschen diese Normübererfüllung entsprechend wertschätzen. Im Moment des Therapiebeginns glauben viele von ihnen, an einem Burnout zu leiden. In diesen Zustand haben sie sich in erster Linie selbst hineingeschafft, indem sie sich überangepasst „sozial“ oder gar „idealistisch“ verhalten. Und dabei sind sie, das ist kurios und bemerkenswert, in ihrer Opferhaltung doch auf verdrehte Weise egozentrisch geworden (siehe Zitat von Willigis Jäger).

Es ist im Alltag meist einfach, jene ausfindig zu machen, die die Normen verletzen: die Kollegen, die uns im Stich lassen, der Chef, der uns ausbeutet, die Mutter, die uns nicht respektvoll behandelt … Aber wem nützt das? Moral spielt, so gesehen, in der Therapie keine Rolle: Es geht nicht darum, die Guten und die Bösen ausfindig zu machen, sondern um die Konflikte zwischen Bedürfnissen und Normen im Patienten. Wenn so einer erzählt, wie schlecht er in der Ehe behandelt wird, ergreifen die Mitpatienten in der Gruppe oft schnell Partei. Eine verständliche Reaktion, nur hilft sie nicht weiter, sondern zementiert den Opferstatus. Es geht darum, den eigenen Anteil herauszufinden – natürlich nicht nach der Logik „selbst schuld“ –, das Beziehungsgeschehen daraufhin zu durchleuchten, wie der Patient es ändern, wie er besser für sich eintreten könnte und das am besten gleich hier in der Gruppe zu üben.

Die erste von drei Zauberformeln im Umgang mit Normen in der Therapie lautet: „Es gibt keine guten und schlechten Menschen.“ Zunächst einmal entlastet das alle Beteiligten fundamental, wirklich an der tiefsten Basis. Denn wenn es nicht um Schuld und moralische Verurteilung geht, können wir überhaupt erst darauf schauen, was zwischen den Menschen passiert, wer welche Bedürfnisse hat und sie vertritt oder verleugnet oder unbewusst versucht, manipulativ für Befriedigung zu sorgen. Und die zweite Zauberformel? „Alle echten Bedürfnisse sind immer berechtigt.“ Das können natürlich jene kaum glauben, die an ihre Bedürfnisse gar nicht mehr herankommen, sie nicht mehr zu spüren wagen, weil davor eine Mauer von Normen steht.

Wir müssen die (Fixierung auf) Normen zunächst einmal „außer Kraft setzen“ und die Bedürfnisse befreien! Sind die Bedürfnisse erstmal frei und werden offen vertreten (also nicht verdreht und manipulativ über Normen), dann stellt sich heraus, dass bei den meisten Menschen ein sehr großes Bedürfnis besteht, mit anderen gut auszukommen und dass es diesen andern gut geht. Das ist der Optimismus der humanistischen Psychotherapie und die grundlegende Hoffnung der gewaltfreien Kommunikation (GFK). GFK bedeutet nicht, dass wir besonders „diplomatisch“ sprechen oder immer nach feinen Kompromissen Ausschau halten. Es bedeutet: Die eigenen Gefühle und Bedürfnisse offen und nicht-manipulativ zu vertreten. Doch der depressive Patient mit eingefleischter Normübererfüllung hat Angst, auf diesem Weg der Befreiung zum Egoisten zu mutieren oder auch nur als solcher dazustehen (es geht ja auch viel um Scham!). Das Gegenteil ist der Fall: Erst wenn die Moral in den Hintergrund tritt, können wir die umfassende und echte Liebe zum Mitmenschen entdecken.

Das „Ich muss …“ „Ich darf nicht …“ „Das tut man nicht …“ hat uns nicht weitergeholfen, in der Therapie noch nie. Wir sollten den mächtigsten Stellvertreter der Normübererfüllung, das „man“ (man tut dies, man tut das nicht), abschaffen und, oh Wunder, durch „ich“ und „du“ ersetzen. Die echte Ich-Botschaft hängt nicht am Wörtchen „ich“ und seiner Verwendung, sondern daran, dass der Patient seine Scham akzeptiert und überwindet, sich und seine Bedürfnisse endlich wichtig nimmt. Es ist wie eine Erleuchtung, immer wieder erstaunlich und erhebend, dabei auf die große Schnittmenge zwischen Therapie und Spiritualität zu stoßen.

Die dritte Zauberformel lautet: „Das Gegenteil von gestört ist nicht normal, sondern ungestört.“ Es darf oft als ein gutes Zeichen gelten, wenn Patienten, die bisher überangepasst waren, bewusst mit der Idee von Normalität brechen, denn diese Idee steht für Normen, für Erwartungen, die andere an uns haben (aber genauso auch für die in moralische Erwartungen verdrehten Bedürfnisse, die wir in Bezug auf andere haben). Das Kriterium „normal“ ist in der Psychotherapie meist wenig hilfreich. Übrigens trifft dies weitgehend auch auf den Begriff „gesund“ zu, da er häufig normativ im Sinne der gesellschaftlichen Normen verstanden wird. Natürlich können wir sagen, dass uns ein neu erlerntes Verhalten des Patienten, z.B. zugunsten der eigenen Bedürfnisse zu agieren, gesünder erscheint als das alte Muster. In diesem Sinne kann es gesund sein, wenn der Patient sich als krank anerkennt: krankhaft überangepasst, konfliktscheu, depressiv. Ganz anders und prognostisch ungünstig ist dagegen, wenn er sich als „nicht normal“ abwertet.

PS. Leichter gesagt als getan! Der therapeutische Prozess selbst wird von vielen Normen beeinflusst um nicht zu sagen: gesteuert. Und es erscheint widersprüchlich, dass der Patient z.B. im Leben endlich aufhören soll, (über)angepasst zu sein – aber in der Therapie mehr oder weniger brav mit unseren Einladungen und Vorschlägen mitgehen „darf“; dafür wird er (sie) durchaus gelobt (belohnt). Die Normen des Therapieprozesses ernst nehmen und gleichzeitig die Norm(über)erfüllung im Leben in Frage stellen, mit dieser Spannung umzugehen, das setzt auf Seiten des Patienten zunächst Leidensdruck, Therapieeinsicht und -motivation sowie Vertrauen voraus. Und bei uns Therapeuten Geduld und Flexibilität: Wie viel Eigensinn gestehen wir ihm (oder ihr) zu? Oft haben wir klare Vorstellungen, wie ein guter therapeutischer Prozess inklusive „Ergebnis“ aussehen sollte und übertragen dies als Erwartungen und Normen auf die Patienten. Das hat zum Teil mit dem großen Paradoxon der Therapie zu tun: dass der/die Patient/in sich einerseits so annehmen soll wie er (sie) ist – und dass wir ihn (sie) genauso annehmen – , und er (sie) sich andererseits unbedingt verändern will. Sagen wir mal so: Es gibt keine ewige Wahrheit, auch nicht in Bezug auf Normen und Tabus, aber es ist eine gute Idee, diese in der Therapie zu hinterfragen. Ich lade Patient*innen immer wieder ein, eine Art therapeutisches Tagebuch zu führen (nicht jeden Tag, aber wenn Impulse da sind) und darin das unzensierte, tabufreie Denken zu üben – und das darf sich auch auf die Therapie selbst beziehen.