An wen denken Sie, wenn das Wort „Narzisst“ fällt? Oder für wen haben Sie es selbst zuletzt verwendet? Die wenigsten wahrscheinlich wenden den Begriff auf sich an und die meisten von uns haben eine zumindest vage Vorstellung, was den Betreffenden kennzeichnet. Es gibt Menschen, die haben ausgeprägte, wenn auch nicht unbedingt immer bewusste Probleme mit dem Selbstwert, sie leiden unter einer fast unstillbaren Sehnsucht nach Anerkennung sowie einer deutlich reduzierten Kritikfähigkeit. Früher hätte man vielen von ihnen mit dem Konzept einer „narzisstischen Störung“ eine Art Erklärungsmodell an die Hand geben können, etwas, das ihrem Selbstverständnis dient und ihnen hilft, wiederkehrende Beziehungspannen oder Lebenskrisen besser zu verstehen, vielleicht sogar zu meistern. Heute möchte niemand etwas mit einer solchen Be- oder Zuschreibung zu tun haben.
Die Tiefenpsychologin und Kindheitsforscherin Alice Miller hat in den 70er und 80er Jahren das von ihr als natürlich und angeboren betrachtete Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Zuwendung noch recht unbefangen als „narzisstisch“ bezeichnet. Naja, unbefangen war das sicher nicht, da der Begriff in der Psychoanalyse, von der Miller herkam, eine große Rolle spielte. Sie wollte ihn aus den Fängen von Freuds Triebtheorie befreien. Heute müsste man den Begriff von (pseudo-)ethischem Ballast reinigen; aber vielleicht taucht „Narziss“, der in sein Spiegelbild verliebte Junge, überhaupt nicht für die Beschreibung des eigentlichen Problems.
Das Kind hat ein natürliches Bedürfnis nach sicherer Bindung und nach Selbstwirksamkeit: Es will merken, dass es den Bezugspersonen nicht egal, sondern für sie bedeutend ist, dass es Zuwendung erfolgreich einfordern kann. Wird dieser Bedürfniskomplex nicht befriedigt, kann das Kind kein gesundes Selbstgefühl, keinen ausreichenden Selbstwert, kein souveränes Selbstbewusstsein ausbilden. Es wird deshalb verschiedene Kompensationsstrategien verfolgen: Anpassung bis zur Überangepasstheit, Leistungsorientierung bis zum Größenwahn (Grandiosität) – um mit Anerkennung das Gefäß zu füllen, was sich nur durch Liebe und liebevolle Zuwendung füllen ließe. Ohne (übertriebene) Anerkennung werden die Betreffenden depressiv, aber selbst mit reichlich Anerkennung (wie manche Stars) können sie sich sehr leer fühlen. Verständlicherweise reagieren solche Menschen sehr empfindlich auf Kritik. Und ja, aus Opfern werden manchmal Täter. Das Denkschema Opfer-Täter oder Täter-Opfer ist allerdings hochproblematisch in der Psychotherapie. Die inflationäre Verwendung des Narzissmus-Begriffs beruht zu wesentlichen Teilen darauf, dass Menschen sich als Opfer von Narzissten „fühlen“ – aber dies ist erstens kein Gefühl und zweitens bringt es niemand weiter.
Die – wenn es sowas gibt: korrekte – Diagnose einer „narzisstischen Persönlichkeitsstörung“ umfasst heute mehr als Selbstwertprobleme, Anerkennungskämpfe und Kritikunfähigkeit: Folgt man der Fachliteratur, so halten sich die Betreffenden für talentierter, besser oder wichtiger als andere Menschen, und falls sie offensichtlich nicht erfolgreicher sind und nicht von anderen beneidet werden, fühlen sie sich vom Schicksal schlecht behandelt. Sie träumen von Ruhm und Ehre, und wenn sie es selbst nicht dahin schaffen, dann versuchen sie sich durch bedeutende Menschen in ihrem Umfeld aufzuwerten. Sie können arrogant und überheblich sein, aber auch nett, höflich, charmant, sofern es der Inszenierung als Besonderheit dient, jedenfalls fehlt ihnen laut diagnostischer Definition echte Empathie – weil sie „selbstverliebt“ sind. Aus dem narzisstischen Egozentriker wird schnell der Egoist, der andere manipuliert für seine Bedürfnisse.
Vielleicht sind Sie schon dabei, trotz meiner Warnungen mit dem Kopf zu nicken und voller Zustimmung noch das ein oder andere Detail hinzuzufügen. Aber Vorsicht: Das Urteil „Narzisst“ klingt vielleicht fundierter als „Egoist“ oder „Egozentriker“, ist es aber meist nicht. Die Einstufung als Narzisst mag in der Psychotherapie manchmal zutreffend sein, ich glaube: eher selten, und noch viel seltener ist sie hilfreich in der Therapie, weil der Patient sich nicht darin wiederfinden kann. Und das liegt nicht nur an narzisstischer Abwehr, vielmehr erspüren die Betroffenen zurecht eine Form von Verurteilung, häufig stellt diese Charakterisierung eine besondere Form von moralisierendem Freund-Feind-Denken dar, therapeutisch könnte man auch von Opfer-Täter-Kategorisierung sprechen. Erst recht gilt dies, wenn die „Diagnose“ im Alltagsleben gestellt, wenn über Ex-Partner, Ex-Chefs u.ä.m. geurteilt wird.
Moral vergiftet die Therapie und kann paradoxerweise auch das Zusammenleben, zu deren Funktion sie beitragen sollte, erheblich beeinträchtigen. Vor allen Dingen, wenn moralische Begriffe mit scheinbar fachlichen Kategorien vermischt werden, um andere Menschen zu Schuldigen zu erklären, wie dies der Fall ist bei „Diagnosen“, die keine sind. „Narzisst“ ist eine solche, meist pseudopsychologische moralisierende Kategorie, die etikettieren soll, dass jemand schuld ist an den Leiden anderer. Ihre Verwendung deutet darauf hin, dass ich, wenn ich der oder die Leidtragende war, eigentlich (noch) nicht in der Lage bin, dort hinzuspüren, wo es wirklich weh tut: auf den Schmerz des Verlusts oder auf meine „50 Prozent“ am Scheitern der Beziehung. Zu einer Patientin, die so über ihren Ex-Partner spricht, würde ich daher etwas sagen wie: „Was würden wir bei Ihnen entdecken, wenn wir aus dem Opfer-Täter-Denken heraustreten könnten und die Frage von Schuld irrelevant wäre?“
Wenn wir uns vom Ex-Partner um wertvolle Lebenszeit und Einsatz betrogen fühlen, hilft die Einstufung als Narzisst scheinbar, die eigentlichen Schmerzen nicht in voller Brutalität wahrzunehmen. Da es sich aber um einen Verdrängungsmechanismus handelt, wird der Schmerz sich sicher nicht auflösen. Erst wenn ich ganz ohne moralische Wertung an das Thema Enttäuschung gehe, habe ich eine Chance, mich mit mir selbst (!) zu versöhnen. Dies gilt natürlich ganz besonders, wenn mir das Gleiche mehrmals im Leben widerfährt: „Meine bisherigen Partner waren alle Narzissten.“
Um einen Schutzmechanismus handelt es sich manchmal auch bei Psychotherapeut:innen, wenn sie einzelne Patienten (meist geht es um Männer) als narzisstisch bezeichnen. Es kann bedeuten, dass der Patient eine aktive Strategie praktiziert, mit seinem Selbstwertkomplex umzugehen, und die Therapeutin oder der Therapeut damit nicht gut zurecht kommt, sie sind wütend auf ihn – und natürlich auf sich selbst, nicht souverän genug zu agieren. Andere Patient:innen, die ebenfalls schlecht bis sehr schlecht mit Kritik umgehen können und gekränkt reagieren, aber eine eher passive Strategie der Vermeidung eigen (Rückzug, Selbstabwertung), werden „gnädiger“ gesehen. Dabei sollte Therapie nichts mit Moral oder Gericht zu tun haben.
Es ist sicher sinnvoll, wenn man oder frau aus Erfahrung lernt und sich von bestimmten Menschen mit hervorstechenden Eigenschaften fernhält. Und es gibt nachvollziehbare Argumente, warum im klinischen Alltag bestimmte Diagnosen verwendet werden: u.a. damit alle Beteiligten wissen, was (in etwa!) gemeint sein könnte. Aber es gibt auch Nachteile dieser Praxis. Eine Diagnose sollte die Therapie günstig verändern und die therapeutische Prognose deutlich verbessern, weil die Therapie präziser abgestimmt wird – in der Regel setzt dies voraus, dass der Patient sich in der Diagnose wiederfinden kann. Wenig bis nichts davon trifft auf die Diagnose „Narzissmus“ zu.
Ich finde das Motto „Avoid Diagnosis“ (Vermeide Diagnosen!) von Irvin Yalom ein gutes Gegenstück zur weit verbreiteten Neigung der Diagnostizitis. Und wenn schon sein Motto in der Therapie gelten sollte, dann erst recht im Alltag: Sobald ich jemand anders eine „Diagnose“ verpasse, ist eine Begegnung auf Augenhöhe unmöglich, ich erniedrige mich, weil ich mich zum Opfer erkläre, oder ihn, indem ich ihn für psychisch krank erkläre. Der „Narzisst“ ist häufig Ergebnis von Projektionen, nicht selten in gewisser Weise ein verunglücktes Vorbild, weil er scheinbar das bereits kann, was die meisten von uns in der Therapie erst lernen müssen: der wichtigste Mensch im eigenen Leben zu sein – und das hat nichts mit Egoismus zu tun.
Wenn Menschen eine hinter ihnen liegende Beziehung als „toxisch“ bezeichnen UND den Schuldigen dafür im „Narzissten“ sehen, übersehen sie, dass die narzistische Störung auf beiden Seiten besteht. Im Alltag mag es manchmal hilfreich sein, jemand zum Schuldigen zu machen. In der Therapie ist es selten hilfreich, oft zunächst ein zähes Hindernis für die eigene Entwicklung.
Wir alle haben ein Thema mit unseren narzisstischen Kränkungen. Frühe Bezugspersonen, in denen wir uns spiegeln mussten und wollten, gaben uns das Gefühl, es stimme etwas nicht mit uns, oder ließen diese Gefühle zumindest zu, waren nicht ausreichend in der Lage, uns aus solch existentieller Scham herauszuhelfen, nicht in der Lage, uns stabile Bindung zu geben und uns zu helfen, ein stabiles Selbstwertgefühl aufzubauen. Ich wage die Behauptung: Sonst wären die meisten von uns nicht „hier“ in der Therapie, als Patient:innen aber auch als Therapeut:innen (!)
Wenn wir offen über Narzissmus reden würden, hätte ich nichts dagegen. So allerdings, wie „Narzisst“ in der Regel verwendet wird – und danach folgen meist automatisch Begriffe wie „toxische Beziehung“ u.ä. – erinnert er mich an den Begriff „Ideologie“ in der Politik: Ideologen (bzw. eben Narzissten) sind immer die andern. Das ist eine Vermeidungsstrategie, sie verhindert die notwendige Ehrlichkeit mit uns selbst und führt nicht zu einem konstruktiven Umgang mit unserer Verletzlichkeit.