Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, vertraute Sichtweisen einfach rumzudrehen. Das heißt nicht, dass das Gegenteil die Wahrheit ist, aber das Rumdrehen liefert eine neue Perspektive. In der Philosophie gibt es ja die Methode der Dialektik: Der These wird eine Antithese entgegengestellt und dann versucht man, eine Synthese zu finden, die beide (Teil-)Wahrheiten in sich „aufhebt“. Also, These: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Antithese: „Schweigen ist Schrott.“ (Jaja, es gäbe noch andere Optionen für die Antithese, aber ich mag es jetzt mal wieder drastisch.)
Wir treffen im Laufe eines Lebens etliche Aussagen, die uns im Nachhinein leidtun oder peinlich sind, die wir also sehr gern zurückziehen würden: „Ach, Mensch, hätte ich bloß geschwiegen!“ Interessant, dass uns solche Erlebnisse immer wieder ins Gedächtnis kommen und die Scham manchmal noch Jahre danach reaktivieren können. Und dazu führen, uns von anderen „Versprechern“ abzuhalten: „Halt jetzt bloß Deinen Mund!“ ruft die innere Zensurbehörde. Manchmal zeugt es von Vernunft und Selbstkontrolle, (zumindest spontan) nichts zu sagen. Aber um was für eine Art von „Vernunft“ geht es dabei oft? Gehen Sie mal entsprechende Situationen im Geiste durch!
Mindestens ebenso aufschlussreich ist, dass wir nicht annähernd so streng Rechenschaft ablegen oder uns gar schämen in Bezug auf die vertanen Chancen, etwas zu sagen! Wie oft begehen wir Unterlassungen, wo es so hilfreich, wichtig oder schön wäre, den Mund aufzumachen? Schauen wir uns mal im Leben um:
Paare, die nicht mehr miteinander reden, denen ist schwer noch zu helfen. Manchmal schweigt ja nur der eine – und dem muss man in der Paarberatung probehalber verschiedene Sätze vorsagen, auf die er selbst nicht kommt. Außerdem kann er unter Anleitung einen Teil der Verantwortung für das Gesagte loslassen (da ich ihm die Sätze vorspreche), was die Hemmschwelle hilft zu reduzieren. Manchmal reicht es, die Realität zu benennen: „Ich habe mich ganz schön von Dir entfernt.“ Oder: „Ich fühle mich so blockiert.“ Solche Lösungssätze retten nicht die Beziehung, oder selten, aber sie lösen zunächst einmal die Zunge.
Wenn das Paar allerdings außerhalb der Paarberatung nicht weiter übt, wieder ins Gespräch zu kommen, ist die Sache meist zum Scheitern verurteilt. Prognostisch besonders schlecht: Auf etwas, das unserem Gegenüber wichtig war zu sagen, mit Schweigen zu reagieren, zeugt in der Regel von Blockaden – oder gar Aggression. Tatsächlich ist Schweigen in partnerschaftlichen Beziehungen meist die gefährlichste Form von Distanzierung und Ablehnung. Sicher, viele kennen das: „Egal, was ich jetzt sagen könnte, es würde zur Eskalation führen.“ Das hat mit dem „jetzt“, also dem Zeitpunkt und den Rahmenbedingungen zu tun. Dann sollten wir eine Option finden, den Konflikt bzw. die Kommunikation darüber zu vertagen. Und dafür müssen wir schon den Mund aufmachen: „Geht es, dass wir morgen mit etwas mehr Ruhe darüber reden?“
Auch ein Beziehungsende sollte m.E. nie durch Schweigen erledigt werden. Ich habe mich nach der Coronazeit von einigen Freunden und Ex-Kollegen „getrennt“, weil ich enttäuscht war und die verbleibende gemeinsame Basis für zu gering hielt. Aber ich habe und hätte nie auf eine Anfrage geschwiegen, sondern zumindest ein paar Worte zur Erklärung geliefert. Und ich habe auch eine gewisse, hups, Verachtung für solche Bekannte und Freunde, die auf eine Mail von mir, die z.B. eine Entschuldigung oder sogar Lob und Dank enthielt, gar nicht reagieren. So als wäre der Kontakt ab sofort vergiftet. Das wird er damit auch.
Schweigen wird oft als aggressiv erlebt und macht aggressiv. Es handelt sich bei dieser Reaktion vermutlich im Kern um die Ohnmacht des kleinen Kindes, das auf seine Bezugsperson angewiesen ist – und wenn keine Reaktion kommt, kann sich das existenziell und lebensbedrohlich anfühlen. Nun sind wir ja alle, die das hier lesen, erwachsen, aber manchmal haben wir noch nicht ausreichend gelernt, für unser inneres Kind zu sorgen, das all die grauenvollen Ohnmachtserfahrungen machen musste.
Als Redaktionsleiter musste ich es öfters erleben, dass mich Autoren „hängen gelassen“ haben. Genauso hat es sich angefühlt: in der Luft hängen … Man hatte einen Beitrag vereinbart, dann kommt der Redaktionsschluss – und statt einen Text zu liefern, stellt sich der Autor (manchmal auch die Autorin) auf mehrfaches Nachfragen per Mail oder Telefon tot. Gerade Ärzte (das ist meine Erfahrung) haben es gelernt, sich im Stress des Praxisalltags ein derart dickes Fell zuzulegen, weil sie es sowieso nie allen recht machen können, dass sie manchmal vergessen, wann dieses Fell besser nicht zum Einsatz kommen sollte.
Wer sich tot stellt, ist für mich tot. Oder bekommt Ärger. Vielleicht kennen Sie das: Man reklamiert mehrfach bei einem großen Dienstleister, etwa einem Telekommunikationsunternehmen (Kommunikation, hahahaha …). Es kommt keine Reaktion oder eine automatisch generierte Antwort mit lauter Verweisen aus Textbausteinen, dass man bitteschön die Onlinefunktionen nutzen solle, wo einem die liebe Susi (ein Avatar) helfen würde. Irgendwann zieht man entnervt sein SEPA-Mandat zurück, d.h. blockiert die monatliche Überweisung. Und auf einmal meldet sich das Unternehmen sogar mit einem persönlichen Mitarbeiter. Warum muss da sein?
Kürzlich habe ich zwei Monate mit meiner ehemaligen Hausverwaltung um die Auszahlung der Kaution gestritten. Der zuständige Mitarbeiter hat sich dabei immer wieder tage- oder wochenweise tot gestellt. Als Philosoph würde ich dem Mitarbeiter vielleicht raten: „Packe große Problem lieber an, solange sie noch klein sind.“ (Konfuzius) Als Therapeut: „Sie müssten mal bei mir sechs Wochen Konflikttraining im Rahmen der Gruppentherapie machen.“ (Wagner) Als betroffener Ex-Mieter und Mensch merke ich, wie sich der Pazifist in mir zurückzieht zugunsten jener Anteile, die zu den Waffen greifen wollen. Tatsächlich, nachdem ich kurzerhand mit einer Mail und ein paar handfesten Argumenten (Drohung mit Anwalt, Drohung als Journalist und mit einem dicken Ordner über Versäumnisse des Vermieters) die Kriegserklärung abends rausschickte, hatte ich am andern Tag frühmorgens die Zusage, dass die Kaution kurzfristig ausgezahlt wird. Warum muss da sein?
Schweigen ist selten eine Lösung in Konflikten. In diesem Fall hätte der Mitarbeiter mich nur rechtzeitig anrufen müssen, nachdem er meine vergeblichen zehn Anrufe im Display gesehen hatte: „Herr Wagner, ich verstehe Ihren Ärger. Ich konnte die Auszahlung der Kaution aber noch nicht mit der Geschäftsführung bzw. Buchhaltung klären. Ich informiere Sie nächste Woche.“ Das hätten sowohl Konfuzius als auch Marshall Rosenberg, der Erfinder der gewaltfreien Kommunikation (GFK), lobenswert gefunden.
Es geht nicht um die Erfüllung sozialer Normen, weder in der GFK noch in der Therapie. Klar, könnte man sagen, solches Verhalten zeugt von mangelndem Respekt und einer schlechten Kinderstube oder was auch immer. Aber es ist einfacher: Wir schaden uns selbst und den andern, wenn wir unangemessen Schweigen.
Wechseln wir nochmals zur Paarberatung und hören hinein in einen klassischen Dialog: „Du hast mir nie gesagt, dass Du mich liebst …“ – „Aber das weißt Du doch!“ Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten, Variante A: „Nein. Woher soll ich das wissen?“ Oder Variante B: „Ja, aber ich hätte es gerne auch mal gehört.“ Sich als Paar, Freunde oder Kollegen sozusagen blind zu verstehen, das ist toll, aber nur stummes Einverständnis zu praktizieren, das ist Käse!
Lieber einmal zu viel als zu wenig: Zustimmung aussprechen, Anerkennung spenden, Zuneigung verbalisieren. Von Klienten kommt auf diese Empfehlung hin manchmal ein Einwand im Gewand der Frage: „Aber ist es denn echt, wenn ich das sage?“ Es ist echt, wenn Sie es ernst meinen – auch wenn es sich unecht anfühlt; alles was ungewohnt ist, fühlt sich zunächst unauthentisch und fremd an. Aber nur weil man zum verstockten Stoffel erzogen wurde, muss man nicht den Rest des Lebens diese (Nicht-)Kommunikationsweise als „echt“ weiterleben! Lieber das Neue wagen und so tun als ob … das ist nicht unauthentisch, sondern mutig.
Das heißt nicht: dass ich es viel besser könnte! Erfahrung lehrt, je näher uns der Mensch steht, mit dem wir einen (inneren oder äußeren) Konflikt haben, desto schwerer fällt es uns, wirklich von unseren Gefühlen und Bedürfnissen zu sprechen. Dazu gibt es sehr heitere Anekdoten von Rosenberg und seinen besten GFK-Schülern: Eben noch eine bewunderte GFK-Trainerin auf dem Workshop oder der angeblich so furchtlose Therapeut, der keinen Konflikt scheut und immer einen passenden Satz findet, und kaum zu Hause, lässt Du Dich von Partner oder Partnerin oder Deinem pubertierenden Sohn als komplett kommunikationsunfähig überführen.
Das Schweigen in der digitalen Welt ist ein eigenes Thema. Ein Grund, warum sich viele Nutzer von Dating-Plattformen von diesen abwenden, sind negative Erfahrungen. Bemerkenswert: dabei geht es oft gar nicht um blöde „Anmache“ (die gibt es auch!), sondern darum, dass sich Menschen, mit denen man kommuniziert, vielleicht sogar sehr Persönliches geteilt hat, von jetzt auf gleich totstellen. „Ghosting“. Andere finden es schon schlimm, wenn auf Kontaktanfragen gar nicht reagiert wird. Daher lautet bei Plattformen, die sich ethisch für etwas Besseres halten, eine wichtige Regel: „Wir antworten immer.“ Moment mal, wirklich? Auf was genau antworten wir immer?
Ich habe es schon etliche Male erlebt, dass Frauen mir eine „Sonne“ als Signal setzen oder eine Reihe meiner Statements mit „Daumen hoch“ markieren. Nett. Aber handelt es sich dabei um eine Kontaktanfrage (die ich beantworten müsste)? Es lässt jedenfalls Raum für Spekulation. Wenn ich dann auf das Profil der betreffenden Frau gehe, stelle ich nicht selten fest, dass ich kaum Informationen erhalte: kein Bild, wenig persönliche Informationen, die über allgemeine Angaben hinausgehen. Warum sollte ich mit jemand Kontakt aufnehmen, von dem ich mir keine Vorstellung machen kann? Es gibt acht Milliarden Menschen.
Menschen geben ihr Bestes und haben gute Gründe für derart schüchtern-zurückhaltendes Auftreten (meist: schlechte Erfahrungen und daraus resultierende negative Glaubenssätze). Und: Mit den Schwierigkeiten, die es beim Kontaktieren in der analogen Welt gibt, haben die Betroffenen auch in der digitalen Welt zu kämpfen. Ohne sich zu öffnen und etwas zu riskieren geht es nicht. Das ist eine Lernaufgabe.
Schweigen ist Schrott. Aber das war ja „nur“ unsere Antithese. Wo bleibt die Synthese? Es gibt definitiv Situationen, in denen Schweigen Gold ist, z.B. in der Therapie: Wenn ein Patient seine Verzweiflung und Ohnmacht äußert, geht es oft darum, dies mit ihm oder ihr auszuhalten, statt durch Reden davor wegzulaufen. Manche Menschen können selbst weniger aufwühlende Situationen nicht aushalten, für sie ist Stille an sich schwer erträglich, deshalb reden sie ohne Punkt und Komma, es darf gewissermaßen keine Pause entstehen – und man muss ihnen öfters ins Wort fallen, damit überhaupt ein Dialog entsteht. Dabei wäre ein Dialog mit weniger Worten und mehr Pausen viel produktiver und schöner.
Also: Silber, Gold oder Schrott – wer weiß das schon oder wer entscheidet das? Die Synthese lautet: Es hängt von der Situation ab. Angemessenes Kommunikationsverhalten beinhaltet, dass wir uns inneren wie äußeren Konflikten stellen und uns weder durch Reden noch durch Schweigen davor drücken. So oder so, es braucht Übung und Nachsicht. Und wir dürfen Fehler machen! Wer keine Fehler machen will, macht viele. Aber dieses Fass machen wir heute nicht auf …