Vom ersten bis zum letzten Atemzug – allen Kulturen dieser Erde ist bekannt, wie eng Atmen und Leben extrem verwoben sind, doch es wird dieser Erkenntnis im modernen Alltag kaum Beachtung geschenkt. Auf der anderen Seite hatten und haben Lehren über das Atmen in den vergangenen 100 Jahren innerhalb der Ganzheitsmedizin einen hohen Stellenwert. Das erhöht den Druck auf uns Gesundheitsbewusste oder bereits Atemwegsgeschädigte: es auch ja richtig zu machen. Seufz. Atmen!
Es geht nicht um die Beherrschung des Atems, sondern um seine Befreiung – ich habe lange gebraucht, bis mir das klar wurde –, auch wenn das eine (die Befreiung) das andere (die Beherrschung) nicht ausschließen muss, d.h. atmen üben in Achtsamkeit schadet niemand.
Den Atem befreien, das hat zunächst einmal mit banalen physischen Beschränkungen zu tun: die engen Hosen, gar mit Gürtel, aber auch enge T-Shirts und Hemden, die abgeknickte Haltung auf dem Stuhl, vielleicht noch an die Tischkante gepresst, um in den PC bzw. Monitor kriechen zu können. Vergessen wir nicht: das Baucheinziehen aus Eitelkeit.
Erst recht trifft das auf die Haltung beim Meditieren zu. Die Atembeobachtung ist sozusagen die Königsdisziplin der klassischen Meditation – aber wie lange hat es gedauert, bis mir jemand eine Haltung und mögliche individuelle Varianten davon richtig gezeigt hat, eine bzw. mehrere Haltungen, in denen der Bauch freien Bewegungsspielraum hat und auch nicht von angespannter Bauch- und Rückenmuskulatur zurückgehalten wird! Aber vielleicht habe ich früher nicht richtig aufgepasst, so wie ich es heute als Therapeut manchmal erlebe, wenn ich Patienten eine angemessene, fördernde Körperhaltung zeigen möchte …
Befreit werden muss der Atem im Alltag auch von der unwillkürlichen Atemunterdrückung durch Anspannung. Der verlängerte Ausatem soll uns über die Aktivierung des Nervus vagus helfen zu entspannen, aber wenn dieser Ausatem nur gepresst ist, weil wir steif und starr vor Stress stehen oder sitzen, wird es kaum funktionieren. Das führt dazu, dass die meisten von uns gerade dann, wenn sie es dringend bräuchten, das beruhigende Atmen nicht hinbekommen. „Die Luft anhalten“ (vor Schreck oder Stress), das passiert ja nicht an der Nase oder im Mund, sondern durch die unwillkürliche Steuerung des Zwerchfells, so dass es zu einer flachen, gepressten Atmung kommt. Man kann das lange Ausatmen üben, man muss es üben – in guten Phasen.
Ich habe eine hindernisreiche Reise zu meinem Atem hinter mir. Als Kind litt ich mehrfach unter schweren Lungenentzündungen, und in meinen 40er Jahren hatte ich mehrmals mit chronischer Bronchitis zu kämpfen. Mein Pulmonologe (Lungenfacharzt), der ganzheitlich orientiert war, meinte irgendwann, ich müsste mich wohl damit abfinden, auch angesichts gewisser „objektiver“ Befunde in den Bronchien (Vernarbungen und Bronchiektasen). Nun bin ich schon fünfzehn Jahre symptomfrei, das war damals nicht absehbar. Und ich bin überzeugt davon, dass meine chronische Bronchitis wesentlich psychosomatisch bedingt war – wer hätte das gedacht 🙂 – obwohl sich aus der Anamnese ebenso wie in der bildgebenden Diagnostik derart „objektive“ Befunde zeigten (Vernarbungen im Lungengewebe sowie Bronchiektasen), dass für den Körperarzt die Sache klar schien. Heute sehe ich es so: Ich habe zu der Zeit vieles, vor allem Konflikte im Berufs- und Privatleben, aus dem Bewusstsein verdrängt, Ängste unterdrückt, und damit auch in gewisser Hinsicht mein Selbstbewusstein, meine Lebendigkeit, mein Atmen. Zwischen Depression und Formen der Atemdepression wie Kurzatmigkeit und flachem Atem gibt es Verbindungen! Ich habe in der Zeit übrigens tatsächlich mit Psychotherapie angefangen, aber nicht wegen der Bronchitis, sondern weil im Rahmen der umfangreichen Diagnostik nebenbei Gallensteine diagnostiziert wurden. Und zu der Zeit dachte ich psychosomatisch noch recht schlicht (das muss ja nicht ganz verkehrt sein): „Das ist meine unterdrückte Wut.“
Dem Arzt damals hatte ich allerdings einen guten Tipp zu verdanken, der zwar nicht die Bronchitis vertrieb – wie diese letztlich verschwand, lässt sich angesichts meines Polypragmatismus („alles Mögliche versucht“) nicht mehr rekonstruieren – mir aber half, mich mit meinem Atem ansatzweise anzufreunden: Beim so genannten „typgerechten Atem“ wird zwischen Einatmern und Ausatmern oder lunaren und solaren Typen unterschieden. Angeblich erfolgt die Zuordnung durch das Schicksal, nämlich nach dem Geburtsdatum. Wie auch immer, ich erkannte mich schon in der ersten Stunde bei einer nach dieser Lehre praktizierenden Physiotherapeutin eindeutig als „Einatmer“ – und fühlte mich endlich gesehen und verstanden, durfte so sein, wie ich nun mal war. Juhuu!
Davor war ich im Abstand von Jahren immer mal wieder für mehrere Termine bei verschiedenen Therapeutinnen gewesen, die einerseits betonten, dass der Atem ganz natürlich sein dürfe – aber dann andererseits doch fixe Vorstellungen davon hatten, wie er nun zu sein habe. Letztlich wollten mich alle zum Ideal einer ausgeprägten Bauchatmung bekehren, irgendwie hatten sie ja vielleicht Recht, aber es hat für mich halt nicht gepasst bzw. sich wie Quälerei angefühlt: aktiv ausatmen und dann den Einatem in den Bauch strömen lassen, so dass sich dieser wie ein Ballon füllt.
Für mich war es nun wunderbar zu erleben, dass ich als Einatmer okay bin, und dass es okay war, wenn ich viel lieber aktiv einatmete, und zwar stark in den Brustraum, und den Ausatem passiv geschehen ließ. Heute, Jahre später, muss ich feststellen, dass das, was ich für meinen natürlichen Atem hielt, vor allem der „natürliche“ Atem eines Menschen in Daueranspannung war – nur dass ich diesen Stress in seiner Nachhaltigkeit gar nicht als solchen wahrgenommen, sondern verdrängt habe. Jetzt erlebe ich, dass ich unter bestimmten Bedingungen, in gewissen Körperhaltungen und im Kontext von geführten Meditationen, sehr wohl gerne aktiv ausatme und den Einatem in den Bauch genussvoll einströmen lassen kann, manchmal. Dass andere, die z.B. neben mir bei der Mediation sitzen oder liegen, länger und tiefer atmen, scheinbar noch mehr dabei genießen können, habe ich akzeptieren gelernt. Und auch, dass ich mich an anderen Tagen doch wieder fühle wie ein Mensch, der rechts und links verwechselt, weil gerade wieder alles umgekehrt bei mir zu sein scheint.
Überhaupt, in den Bauch atmen – pah! Wie soll das denn gehen? Tatsächlich entspricht die Vorstellung, der Atem würde den Raum vom Becken bis zu den Rippen füllen, keinesfalls der medizinischen Realität: Das Zwerchfell trennt den Bauch- vom Brustraum. Bei der Einatmung zieht es sich zusammen und durch die Kuppelform auch ein paar Zentimeter nach unten, erweitert dadurch den Lungenraum, saugt gewissermaßen Luft an, komprimiert dabei von oben den Bauchraum und massiert dadurch die Organe des Bauchraums (eine Auswirkung der tiefen und ein fehlender Effekt bei flacher Atmung, was oft übersehen wird). Aber Luft im Bauchraum? Das wären dann wohl Blähungen, und wer will das schon!
Das Zwerchfell ist ein Muskel, und Muskel lassen sich bekanntlich trainieren. Auch Muskelentspannung lässt sich trainieren. Dabei geht es allerdings weniger darum, physische Muskelkraft aufzubauen, vielmehr um eine Verbesserung der feinmotorischen Koordination und dem Umgang mit unserem Geist (siehe Buchtipp).
Das ist die Schnittstelle zu Yoga und anderen Lehren, die die Bauchatmung stark betonen: Unser Körper – das Nervensystem, die von ihm gesteuerten Muskeln, letztlich der ganze Organismus – folgt unseren Vorstellungen, im Guten wie Schlechten. Dem Nervensystem ist die äußere Realität herzlich egal, es orientiert sich an dem, was wir als Realität empfinden. Ob wir einen Tiger oder Täter wirklich sehen oder uns das nur überzeugend einbilden: egal! Aber das Prinzip, das beim Trauma so dysfunktional wirken kann, lässt sich auch konstruktiv in Therapie und Prophylaxe nutzen. Dem Nervensystem ist es egal, ob wir wirklich gut drauf und lustig sind oder nur für 20 Minuten so tun als ob, weil wir gerade Lachyoga praktizieren oder singen. Dem Nervensystem ist es auch nahezu egal, ob wir wirklich in einer Frühlingswiese liegen, entspannen und die „leckere“ Luft genießen oder uns das nur ganz ergriffen vorstellen. (Das ist für die meisten Menschen Übungssache.)
Das Atmen neu lernen erscheint ähnlich wie sich auf eine sehr lange Phantasiereise zu begeben. Und dabei ist eine sehr prominente Etappe diese: Wir atmen tief in den Bauch. Am Anfang ist es für viele Ungeübte dabei am einfachsten sich vorzustellen, sie würden durch den Nabel atmen. Tatsächlich können wir nach und nach in unserer Vorstellung durch fast jede beliebige Körperstelle einatmen und den Atem dann an andere Körperstellen schicken oder hinauslassen – und das macht etwas mit unserer Atembewegung, mit der Atemmuskulatur, mit der Körperhaltung, sogar mit der geistigen Ausrichtung.
Yoga ist vermutlich die Gesundheitslehre, die am stärksten die Bedeutung des Atmens betont – auch in der Vorbereitung für spirituelle Fortschritte – und zahlreiche Übungen dafür entwickelt hat. Die grundlegende Idee scheint, dass der Atem nicht „eingeholt“ wird (daher mögen manche Yogis den deutschen Begriff „Atemzug“ nicht besonders), sondern von alleine einströmt, wofür es eine optimale bis maximale Ausatmung braucht.* Alles Atmen steht und fällt also mit dem Ausatmen. Für den Yogi beginnt das Atmen mit dem Ausatem, eine aktive Arbeit, die aber nicht als „Herauspressen“ stattfindet. Das Einatmen ist dagegen ein passiver Vorgang (obwohl Muskeln im Brustraum beteiligt sind), der Atemstrom wird dabei sogar bewusst gebremst, um ihn gleichmäßig zu halten und zu verlangsamen. Im Grunde sind das, was viele von uns als Yogaübungen und -haltungen kennen, die sog. Asanas, Vorbereitungen auf die Atemschulung.
Der Geist, die mentale Aktivität, steht oft der vollen Nutzung der Kraftquelle Atem entgegen: Glaubenssätze („das schaffe ich bestimmt nicht“) oder mehr oder weniger massive Ängste (Todesangst bei Atemstillstand) können z.B. die Verlängerung des Atems oder das Einhalten der Atempausen begrenzen. (Idealerweise folgt nach der Yogalehre sowohl dem Ein- als auch Ausatem jeweils eine Pause, so dass die Atemumkehr wie von alleine stattfindet.) Bei Stress verspannen sich Zwerchfell und Bauch; wenn die Bauchdecke nicht weich ist, kann auch das Zwerchfell nicht gut arbeiten. Daher ist Yoga ein ganzheitlicher Trainingsweg, der Schulung von Körper, Atem und Geist – insbesondere das Lernen der meditativen Beobachtung – einschließt. Und bei dem Widerspruch, den ich meinen früheren Atemlehrerinnen angelastet hatte, handelt es sich möglicherweise um eine Paradoxie in der Sache selbst: Einerseits geht es um die richtige Technik und andererseits um Gelassenheit.
Wenn man, wie ich lange Zeit, schon beim Gedanken an Atemgymnastik in Stress gerät, können singen, summen und tönen sanfte Einstiegsvarianten sein: Wir üben sozusagen das Atmen nebenbei. (Obwohl gerade viele professionelle Sänger mit Atemarbeit besonders gequält werden …) Vielleicht könnte man beim Atmenlernen zumindest vorübergehend auch häufiger den hilfreichen Glaubenssatz aus dem heilsamen Singen anwenden: „Es gibt keine Fehler, nur Variationen.“ Ein Glaubenssatz bildet ja meist kein Endziel, sondern eine Entwicklung, eine Etappe ab. Die Wahrheit ist wohl: Es gibt Fehler beim Atmen. Eine andere, psychosomatische Wahrheit ist aber nicht weniger wichtig: Frei atmen hat etwas mit Aufrichtung und Selbstbewusstein zu tun: „Ich bin okay, so wie ich jetzt bin – und ich trete dafür ein!“
Buchtipp: R. Sriram, Das Geheimnis des Atmens. Mit Yoga die eigene Kraftquelle entdecken, Herder, Freiburg u.a., 2021
* So eindeutig, wie manchmal in Yogaschulen getan wird, ist die Sache allerdings nicht. Anscheinend ist da weder die alte Yoga-Literatur eindeutig noch sind sich die großen Lehrer einig. A. G. Mohan, ein enger Schüler von Shri T. Krishnamacharya, beschreibt es anders: „Beim normalen Atmen … ist die Ausatmung eine passive Reaktion des Brustkorbs … Sie geschieht durch die Entspannung des gedehnten Brustkorbs.“ Dadurch werde die Luft aus den Lungen herausgedrückt. Bei der bewussten Anwendung von Atemtechniken werde dieser Vorgang zwar durch die willkürliche Zuhilfenahme der Bauchmuskeln und Atemhilfsmuskeln im Oberkörper unterstützt, der Charakter der Ausatmung als Entspannung ändere sich dadurch jedoch nicht. Anders die Einatmung: „Das Einziehen der Luft in die Lunge ist ein aktiver Prozess.“ Idealerweise würde sich dabei der untere Bauch gar nicht bewegen, da dies aber für die meisten Yogaschüler zu Anspannungen führe, könne der untere Bauch sich am Ende der Einatmung leicht nach außen bewegen. Für A. G. Mohan immer sehr wichtig: „Anpassung ist die Regel.“ D.h. Anpassung der Idealvorstellungen an die individuellen Gegebenheiten des Schülers, das gelte für Yoga wie für Pranayama (Atemübungen).
A . G. Mohan: Yoga. Rückkehr zur Einheit, Verlag Via Nova, Petersberg 2019, S. 213/214
Hinweis: Über die Bedeutung des Atems für Achtsamkeit und Meditation habe ich bereits vor rund fünf Jahren einen (kürzeren) Beitrag verfasst: A wie Atem