Von der Psychoanalytikerin Karen Horney stammt der Satz: „Ein Neurotiker kann niemals völlig aufrichtig sein.“ Das ist gleichzeitig wahr und irreführend, weil „aufrichtig“ Moral impliziert. Und die Moral muss meistens draußen bleiben aus der Therapie, wenn wir voran kommen wollen, also auch, wenn ich Patienten aus therapeutischer Sicht zur „Ehrlichkeit“ einlade oder auffordere. „Das Wichtigste in der Therapie ist, dass sie lernen, ehrlich zu sich selbst zu sein – davon unabhängig können Sie immer noch überlegen, ob und wann der Therapeut oder die Therapiegruppe etwas von dieser Ehrlichkeit erfahren sollten.“ Sowas sage ich immer mal wieder (obwohl natürlich die Frage, was das Wichtigste in der Therapie ist, jeden Tag anders beantwortet werden könnte :-)). Als Synonym für die Ehrlichkeit verwende ich auch „tabufreies Denken“. Was keine Aufforderung oder Erlaubnis beinhaltet, tabufrei zu leben.
Nähern wir uns der Ehrlichkeit von der Seite der Unehrlichkeit: Von Patientinnen mit ausgeprägter und chronifizierter Anorexie (Magersucht) wissen wir – und sie selbst nach einiger Zeit Therapie auch – , dass sie sich oft belügen oder betrügen und damit auch ihr Umfeld und die Therapeuten. Es wäre unsinnig, dies moralisch zu bewerten. Genauso unsinnig wäre es allerdings, ihnen alles zu glauben. Da kann ich, sofern eine gute therapeutische Beziehung besteht, auf die Behauptung der Patientin, sie wisse gar nicht, warum sie schon wieder abnehme, sie esse völlig normal und nehme sogar Zwischenmahlzeiten ein, knallhart sein und sagen, dass offenbar die Gewichtsphobie sie fest im Griff habe und die massive Wahrnehmungsverzerrung anhalte, de facto ernähre sie sich weiterhin hypokalorisch. Und weiter, dass ich mir Sorgen mache, obwohl sie selbst sich diese Sorgen machen müsste. Ehrlichkeit kann hier bedeuten, dass die Patientin sich selbst eingesteht, dass sie sich in erster Linie gefreut hat (oder zumindest ambivalent war), als die Waage wieder etwas weniger anzeigte als letzte Woche.
Dann gibt es, im Bereich Psychotherapie eher selten, Patienten mit ausgeprägten Persönlichkeitsstörungen, die völlig unglaubhafte Geschichten über ihr Leben erzählen. Deutlich ist dies bei schweren Formen von dissozialer Persönlichkeit, also das, was man früher Psychopath nannte. Da bringt Konfrontation wenig, da ist überhaupt auch die therapeutische Prognose nicht besonders gut. Wie gesagt, das sind Ausnahmen, vielleicht auch, weil sich solche Menschen selten in Therapie begeben (und teilweise eher in den Fängen der Justiz landen). Etwas häufiger kommen Patient:innen, deren Persönlichkeitsstörung nicht so krass, aber relevant ist, etwa mit einer ausgeprägten Selbstwertproblematik, die sie mit imposanten Geschichten überdecken. Das kann uns als Therapeuten befangen machen: Wenn wir ehrlich wären, müssten wir sagen, dass wir die Patientin in diesem Aspekt als unehrlich erleben – und das könnte die therapeutische Beziehung beschädigen. Aber es schadet dieser Beziehung auch, wenn wir so tun, als ob wir die Geschichten glauben würden. Am Besten ist es, darauf anfangs gar nicht einzugehen, es wie ein kindliches Flunkern zu behandeln und den Fokus auf jene Themen und Aspekte zu lenken, wo wir ehrlich empathisch sein können.
Viel häufiger haben wir als Therapeuten damit zu tun, dass Patienten uns am Anfang oder auch längere Zeit etwas verschweigen, was mit sehr viel Scham verbunden ist: Alkoholismus, Bulimie, Fremdgehen, Gewaltausbrüche in der Partnerschaft, Verschuldung usw. Es gibt viele solche temporären Geheimnisse, und diese sind mehr als voll okay! Patienten müssen selbst entscheiden dürfen, wann sie wem wie viel mitteilen. Das Gebot der Ehrlichkeit in der Therapie meint zunächst einmal „nur“ die Ehrlichkeit zu sich selbst. (Natürlich haben wir noch häufiger damit zu tun, dass Patient:innen etwas noch gar nicht sehen oder spüren können, was wir schon vermuten oder wahrnehmen, z.B. Angst, Trauer, Wut …)
Patienten lernen in einer erfolgreichen Therapie Schritt für Schritt, nahezu tabufrei zu denken und zu empfinden, eine Ehrlichkeit zu sich selbst. Das kann man zwar nicht pauschal für alle Patienten sagen, da ein Teil der Patienten von dieser Art zu denken mental überfordert wäre, aber z.B. alle Patient:innen, die diesen Blog lesen, können auch tabufrei denken lernen. Ich empfehle auch aus diesem Grund, ab und zu therapeutisches Tagebuch zu führen – da können wir etwas loswerden, was niemand außer uns erfahren muss, unsere geheimen Lebensträume und Wünsche. Wir können uns lebhaft vorstellen, dass dies zum Teil sehr schwer fällt: Wie soll jemand, der ein Leben lang „erfolgreich“ innere Konflikte verdrängt hat, so erfolgreich, dass er (sie) darüber krank geworden ist, auf einmal über die ins Unterbewusste abgetauschten Bedürfnisse und Wünsche und die damit verbundenen Konflikte reden oder auch nur frei denken?
Viele depressive Patienten neigen dazu, vor allem, was nur entfernt nach Egoismus riecht, zurückzuweichen. Ehrlichkeit zu sich selbst, das ist oft ein brutaler Job. Wollen Sie es wirklich versuchen? Es könnte sein, dass Sie sich lang gehegte Wünsche eingestehen, verpasste Chancen erkennen oder Fehler einräumen, auch lang verdrängte Abneigungen entdecken, dass sie in der Folge etwas Positives wagen, aber auch, dass sie etwas aufs Spiel setzen: Freundschaften, Beziehungen, Job, Familie. Natürlich sollten wir vorsichtig sein, dass nicht aus einer „Laune“ oder aus dem „Affekt“ heraus, plötzlich die schlechteste Meinung über andere oder die schlimmste Kritik als „Ehrlichkeit“ glorifiziert wird.
Wenn es bei der therapeutisch begründeten Ehrlichkeit darum geht, Licht in verdrängte und verschattete Bereiche zu werfen, so leuchtet es ein, dass dies ein stufenweiser Prozess ist – und dass wir Therapeuten als Unterstützer vorsichtig sein müssen (und in der Gruppe z.B. auch Patienten vor zu „ehrlichem“ bzw. aufdeckendem Feedback von Mitapteinten schützen müssen). Manchmal braucht es unseren Spiegel, damit Patienten sich erkennen, etwa dass sie „in Wahrheit“ den Tod der Mutter herbeigewünscht haben oder dass sie ihren Bruder nicht wirklich lieben, obwohl sie immer so getan und es in gewisser Weise selbst geglaubt haben, oder dass sie den eigenen Partner (manchmal) hassen. Sogenannte Schuldgefühle oder Angst davor verhindern die Ehrlichkeit. Wir spüren etwas eher als die Betroffenen, was dahiner steckt, und können dies als Vermutung anbieten, und oft ist es für Patienten eine große Erleichterung, wenn sie es sich selbst eingestehen.
Nochmals, diese Ehrlichkeit ist ein therapeutisches und kein moralisches Gebot: Ich werde niemand verurteilen, der sich nicht daran hält (denn er oder sie hat wichtige Gründe), aber ich kann ihm oder ihr schon rückmelden, dass ich die Therapie in Gefahr sehe oder Sorge habe, dass sie nicht richtig in Schwung kommt. Ein Patient, der auch nach Wochen intensiver Therapie sein Leben mit „Passt schon!“ kommentiert – obwohl ich merke, dass er sich im Grunde nur ein anderes Leben nicht zu träumen wagt, dem werde ich dies auch rückmelden.
Ein anderes häufiges Beispiel ist, dass Patient:innen sich unverhältnismäßig lang an einer Trennung abarbeiten – typischerweise betonen sie, dass sie gar kein Problem (mehr) mit der Trennung hätten, „aber die Art und Weise“, es gäbe da einfach noch Klärungsbedarf, und das ist der Klebstoff oder das Seil, das sie noch mit dem „Ex“ verbindet. Es kommt dann der Moment, wo wir Therapeuten fragen: „Könnte es sein, dass sie die Trennung selbst noch nicht akzeptiert haben?“ Da kann viel Schmerz, aber auch tränenreiche Erleichterung – gesehen zu werden und sich „ehrlich“ zeigen zu dürfen – hochkommen. Aber, wir können mit unseren Vermutungen auch daneben liegen.
Nun sind wir als Therapeuten oft so etwas wie ein Vorbild für die Patienten. Daher gilt das Gebot der Ehrlichkeit auch für uns. Wie ehrlich sind wir zu uns selbst, was die Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche gegenüber dem Patienten betrifft? Und wir müssen dem Patienten auch vormachen, wie der zweite Schritt geht: Ehrlich sein zum andern, in dem Fall zum Patienten. Oft wird diese Ehrlichkeit als Authentizität bezeichnet. Doch Ehrlichkeit drückt m.E. mehr von dem Schwierigen aus, das in dieser Aufgabe liegt. Es gibt Möglichkeiten, dem Patienten zu vermitteln, was wir empfinden und denken, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen – sofern ich ehrliches Interesse an ihm oder ihr habe und mich empathisch einfühlen kann in seine (ihre) Not. Insofern könnte man die These von Karen Horney auch umdrehen: „Patienten sind (fast) immer so aufrichtig, wie sie gerade sein können. Die völlige Aufrichtigkeit lernen sie Schritt für Schritt mit unserer Hilfe und durch unser Vorbild.“