„Was ist heute schon Gutes passiert?“ Diese Frage stelle ich häufiger, nicht als Fangfrage, aber schon als diagnostisches und prognostisches Mittel, das gleichzeitig auch therapeutisch wirkt, wenn sich im Bewusstsein des Patienten etwas verändert. Menschen, die das Gute sehen, das ihnen passiert, sind zuversichtlicher in Bezug auf Therapie und Leben – und haben aus therapeutischer Sicht eine bessere Prognose. Menschen, die begreifen, dass es auf Dauer nachteilig ist, das Gute auszublenden, haben die Chance, etwas anders zu machen.
Es gibt Patientinnen, die auf die Frage nach dem Guten selbst nach einem erfüllten Tag mit einem fast empörten „Nichts. Gar nichts!“ antworten – und das vielleicht, obwohl ich sie bereits am Frühstückstisch, während ich mir einen Kaffee holte, herzhaft mit einer Mitpatientin lachen sah. War das nicht Gutes? Manchmal werde ich dann ein wenig provokant: „Ja, darf denn überhaupt Gutes passieren?“
Die Perspektive der Systemischen Therapie
Wem etwas Gutes passiert, der hat einen Anteil daran. Und wer Anteil an dem hat, wie es ihm (ihr) geht, kann mehr Verantwortung im Leben übernehmen, damit noch mehr Gutes passiert. Er (sie) kommt aus der Passivität, aus der Rolle des Patienten, in die Aktivität, oder wie manche systemischen Therapeuten sagen, in die Rolle des „Kunden“ oder Klienten, der etwas will und in mir als Therapeuten seinen helfenden Dienstleister sieht.
Der Patient dagegen, der Patient bleiben „will“ – nennen wir ihn gemäß der systemischen Typisierung den „Jammernden“ –, traut sich diesen Schritt in die Eigenverantwortung für das eigene Leben nicht zu. Er weiß, dass er Probleme hat, doch mit der Lösung hat er gefühlt nichts zu tun.
Der Kunde und der Jammernde, das sind zunächst nur zwei Typen, die meisten Patientinnen sind phasenweise mal in diesem und mal in jenem Modus unterwegs. Und: Der Großteil der Patienten wird bei einem gewissen Lebensthema im Jammer-Modus feststecken und bei anderen Themen sehr wohl als Kunde ansprechbar sein. Wenn wir daran weiterarbeiten, können wir helfen, die Selbstwirksamkeit zu stärken, was ihm (ihr) insgesamt, also auch für die scheinbar noch unlösbaren Themen zugutekommt. Es braucht also Geduld auf beiden Seiten.
Wenn ich als Therapeut das nicht erkenne, werde ich uns beide, den jammernden Patienten und mich, ziemlich schnell ins therapeutische Abseits stellen, wo wir voneinander nur noch genervt sind: Ich werde ärgerlich, weil der Patient alles, was helfen könnte, verwirft – Selbststeuerung will er nicht lernen, Gelungenes nicht erkennen, geschweige denn Ressourcen reaktivieren. Und therapeutische Tools wie einen Wochenbericht nutzt er manchmal mit für mich als Leser (Therapeut) gefühltem Sarkasmus aus: Was war gut letzte Woche? „Nichts.“ Was habe ich erkannt? „Nichts.“ Was ist mein nächster Schritt? „Keine Ahnung.“ Was brauche ich dafür? „Keine Ahnung.“
Doch auch ich gehe diesem Patienten schnell und gewaltig auf die Nerven, weil ich etwas von ihm verlange, was er derzeit nicht kann, obwohl ich es ihm zutraue, oder gerade nicht liefern will: „Kenn‘ ich schon, klappt bei mir nicht; hab‘ ich schon (ausprobiert), hilft bei mir nicht.“
Richtig auf den Keks gehen uns Therapeuten sowieso nur die ziemlich konsequenten Jammerer, die im Beisein des Therapeuten nie etwas Gutes gelten lassen. Sie wirken so undankbar. Als Gegenüber habe ich das Gefühl, sie wollen sich nur bemitleiden lassen und dass ich ihnen ordentlich Recht gebe. Das ist in der Anfangsphase völlig in Ordnung, aber nicht auf Dauer. Mir gehen schon einfache rhetorische Fragen ziemlich auf die Nerven, auf die man nur die eine vorgegebene Antwort geben kann. Wie ist es dann erst mir rhetorischen Geschichten des Patienten, gefühlt hundertmal so erzählt, aus einem Opfermodus, und da soll ich mitjammern?! Das hat doch nichts mit Empathie zu tun!
Um es klarzustellen: Mit den üblichen Formen des „positiven Denkens“ habe ich nichts am Hut! Was negativ war, darf negativ genannt werden, auch in einer vernünftigen Positiven Psychologie: Das Schlimme wird in der Regel nicht in Gutes uminterpretiert, nicht banalisiert oder relativiert; wer Opfer war, darf sich auch so zeigen usw. Aber das Positive im Leben eines jeden gibt es auch und muss zugelassen und zumindest gelegentlich in meinem Beisein als Therapeut anerkannt und genutzt werden.
Ich erwarte von niemandem, dass er (sie) ein Dankbarkeitstagebuch führt, zumal der Begriff Tagebuch dabei schon irreführend ist, so als müsste man konsequent Tag für Tag schreiben, was alles toll war. Ich bin mehr für ein Tagebuch ohne Tage und ohne Tabus, ein Tagebuch, dem je nach aktuellem Impuls alles unzensiert anvertraut wird, das Schwierige und Schmerzhafte ebenso wie das Schöne und Wertvolle, die Lebensträume und Wünsche ebenso wie Ängste, Alpträume, Rückschläge …
Bessere Selbstfürsorge ist das Ziel der Therapie. Ein „Kunde“ wird der Patient in den Momenten, in denen er einsieht, dass wir seine Umwelt nicht ändern werden, weder den Partner, noch den Chef noch die Verwandtschaft oder gar Gesellschaft, sondern nur mit seinen Anteilen arbeiten können, so dass er seine Probleme besser in den Griff bekommt, manche löst und manche vermeidet.
Wann hast Du schwierige Herausforderungen schon einmal gemeistert, wann größere Probleme lösen können? Wie ist es Dir gelungen? Auch hier wird der jammernde Patient nichts antworten (können), da seine depressiv-ängstlich gefärbte Brille einen solchen Ressourcen-bezogenen Rückblick nicht zulässt. Nochmal: Der Jammerer tritt so auf, wie er (sie) auftritt, weil er – oft gar nicht einmal bewusst – eine riesige Angst vor dem Leben und vor eigenen Entscheidungen und den Konsequenzen hat. Es scheint zwar manchmal so, als würde er uns in die, natürlich aussichtslose, Retterrolle manövrieren und damit manipulieren. Aber, wenn wir die Rolle annehmen, sind wir selbst schuld. Manipulation ist als Begriff irreführend, weil dies eine böse Absicht unterstellen würde. Die systemische Typologie hilft mir dagegen als Therapeut, mich nicht verrückt zu machen, sondern Geduld zu haben – und oft ist sie auch hilfreich für den Patienten, wenn ich ihn (sie) damit konfrontiere, wo er (sie) aus meiner Sicht steht: „Ich höre Sie immer nur Jammern oder täusche ich mich da?“
Es kann sein, dass der Patient mich dann vom Retter zum Täter macht, da ich ihn angeblich mit der Frage „sehr verletzt“ habe … Da muss ich weiter konfrontieren. Echt jetzt? Ja – aber wie? Konfrontation heißt, der Realität ins Auge schauen – oder auch, uns die Aspekte der Realität anschauen, die wir gerne ausblenden. Manchmal hätte ich Lust zu sagen: „Ich sehe Sie, wenn ich aus dem Fenster schaue, mit Mitpatienten tanzen, Tischtennis spielen, kuscheln, ich sehe, dass sie Appetit haben und Freude beim Spieleabend. Aber bei mir sagen Sie immer: Alles Mist!“ Ich könnte ihm außerdem noch eine Checkliste geben, welche scheinbar banalen Dinge uns fast jeden Tag erfreuen und gelegentlich richtig glücklich machen sollten: warm duschen, mit dem Auto über Land fahren, essen gehen oder überhaupt Essen bekommen, Freunde haben, eine Welt voller Musik usw. Doch wir gewinnen therapeutisch nichts, wenn der Jammerer unser Reden als rhetorisch empfindet und meint, zwangsweise zustimmen zu müssen und vielleicht, weil er brav sein will, lernt, sich dankbarer zu äußern, ohne echte innere Beteiligung.
Die tiefenpsychologische Sicht (unter Einbeziehung traumatischer Aspekte)
Jammern ist eine äußere Erscheinungsform einer Ohnmacht. Ohnmacht zuzulassen und halten zu können, das gehört zu unseren wesentlichen Aufgaben als Therapeut. Wenn wir einmal mehr philosophisch auf die Welt schauen, auf Politik und Geschichte, so sind wir doch als Einzelne ziemlich ohnmächtig gegenüber vielen Entwicklungen und hätten allen Grund zu jammern: „Mein Gott, wie kannst Du das zulassen?“ „Hört das denn nie auf – mit Gewalt und Krieg, Hunger und Elend, Rassismus?“
Nur, so können wir nicht leben, d.h. wir müssen uns auch auf das Gute im Leben und in der Welt beziehen: Das Leben ist wertvoll. Die meisten Menschen sind im Herzen gut. Also, müssen wir mit der Ohnmacht umgehen lernen.
Unter der Ohnmacht, die „ich kann nicht“ ruft, liegt die meist verdrängte Angst: „ich habe solche Angst, diesen Schritt zu gehen“. Kritisch erscheint aus therapeutischer Sicht, wenn die Ohnmacht des „ich kann das nicht“ letztlich eine regressive (kindliche) Verweigerungshaltung ausdrückt, in die Eigenverantwortung zu gehen und Lebensrisiken zu übernehmen. Die regressive Haltung sagt so etwas wie: „Irgendein Papi (der reale Vater, der Therapeut, die Sozialarbeiterin, Gott selbst) oder eine Mami sollen das Problem regeln.“ Kindliche Wünsche sind legitim, müssen aber beim erwachsenen Patienten als unrealistisch und letztlich auch unattraktiv konfrontiert werden. Wer sich nicht erwachsen verhält, dem entgeht in der Regel eine ganze Menge Leben – und der Preis dafür, Krisen und Herausforderungen nicht erwachsen zu bewältigen, ist auf lange Sicht oft hoch: Privat- und Arbeitsbeziehungen gehen in die Brüche.
Vorübergehendes Jammern ist allerdings nicht automatisch ein Ausdruck von anhaltenden Regressionen, sondern manchmal notwendige Begleiterscheinung eines emotionalen Flashbacks. Mit etwas Therapieerfahrung weiß der oder die Betroffene selbst, dass sein Empfinden gerade nicht der realen Situation entspricht, sondern vielmehr aus einer alten Erfahrung stammt, in die er (sie) sich gerade zurückgeworfen fühlt. Das Jammern kann dann tatsächlich, wenn es nicht dauerhaft und längst schlechte Gewohnheit geworden ist, zur Entlastung führen und Teil von Selbstregulation und Genesung sein. Pete Walker, der sich viel mit derartigen emotionalen Flashbacks und ihrer Bewältigung befasst hat, nennt Jammern daher ein „Menschenrecht“!
Tatsächlich jammere ich immer mal wieder. Es tritt häufiger beim morgendlichen Aufwachen auf, manchmal aber auch beim Autofahren. Irgendeine Stimme ruft dann aus mir heraus: „Ich kann nicht mehr!“ „Das ist so gemein …“ „Warum hilft mir denn keiner?“ „Ich schaff das nicht …“ Oder Ähnliches. Meist macht das Gejammer gar keinen Sinn, weil ich nicht in einer derartig dramatischen Notsituation bin, außerdem über Hilfe verfüge, und das auch weiß. Die Aussagen beziehen sich auf eine Stimmung, die mir sehr bekannt vorkommt und mich gerade für Momente überwältigt. Gleichzeitig weiß ich, dass das Gefühl jetzt gerade nicht zutrifft und bin froh, dass mich niemand mit einem solchen „unsinnigen“ Erleben mitbekommt. Uud ich weiß, es ist gleich vorbei.
Im Leben und in der Therapie gibt es häufig Rückfälle in die Ohnmacht – und damit in den Status des jammernden Patienten. Es hat wenig mit gutem Willen zu tun, deshalb ist es so wichtig, die systemischen Kategorien Kunde und Jammernder nicht moralisch oder pädagogisch aufzuladen! Dass Patienten sich „lost“ fühlen, sich die scheinbar kleinsten Schritte zur Besserung gerade nicht zutrauen, dass sie mal wieder sich und die ganze Welt mit Schwarz-Weiß-Denken überziehen, wegen im Grunde überschaubarer Katastrophen vom Weltuntergang reden oder davon, gar keinen Boden mehr unter den Füßen zu haben, dass sie ihren Selbstwert vom eigenen inneren Kritiker auf „0“ runterschimpfen lassen …, das nervt schon mal, hat aber Gründe; nicht selten: einen traumatischen Hintergrund. Es braucht neben der prinzipiellen Einsicht des Patienten auch viel Übung in Selbstregulation, das Vergangene vom Gegenwärtigen zu unterscheiden und aus solchen Löchern schneller wieder raus und hoch zu kommen. Als Therapeut dürfen wir die Messlatte für den Moment nicht zu hoch legen, selbst wenn wir dem Patienten „eigentlich“ sehr viel mehr zutrauen.
Ich bin jahrelang zur tiefenpsychologisch orientierten Therapeutin gefahren – man könnte etwas pointiert sagen: primär um zu jammern und getröstet zu werden. Okay, ein bisschen mehr war vielleicht schon: Wir haben meinen Anteil an Konflikten, unter denen ich litt, beleuchtet, auch die Ähnlichkeit mit lang zurückliegenden Situationen (in der Herkunftsfamilie), und manchmal resultierte daraus eine punktuelle Änderung meines Verhaltens. Die Therapie hat mich zweifellos stabilisiert, doch letztlich nichts daran geändert, dass ich bestimmte grundsätzliche Entscheidungen aus Angst verdrängt habe: Ich habe den Job nicht mehr ausgehalten, aber ich wollte ihn auch nicht aufgeben. Dazu musste es zu noch mehr Leidensdruck und Verzweiflung kommen. Wenn ich mein eigener Therapeut gewesen wäre, hätte ich mich als Patienten mit der verdrängten Entscheidung und Angst viel mehr konfrontiert :-). (Daher weiß ich als Therapeut heute, dass ich oft leicht reden habe …) Aber das Konfrontieren ist meist nicht die typische Methode der Tiefenpsychologie; vielmehr würde diese darauf bauen, dass der Patient irgendwann selbst das Jammern leid ist – oder jedenfalls fast allein oder wie von allein (obwohl der Therapeut dennoch einen Anteil hat) zur notwendigen Erkenntnis gelangt, das Leben ändern zu müssen.
Zurück zur Positiven Psychologie?
Der ständige und scheinbar konsequente Jammerer in der Therapie jammert also meist, weil er Angst vor Lebensentscheidungen hat, verständliche Angst, und da dürfen wir empathisch, aber nicht nachgiebig sein! Es gibt Therapeuten, die am Anfang der Stunde eine Art Jammerzeit einrichten, damit das ganze Elend rauskommt und eben, weil das Jammern sehr entlastend sein kann – aber irgendwann muss es weitergehen. Warum es nicht mal aussprechen, wenn die Patientin nach zehn Jahren den Vater nicht mehr pflegen kann, aber auch nicht auf das Erbe verzichten will: „An Ihrer Stelle müsste man sich ja wünschen, dass Ihr Vater bald stirbt …“ Oder: „Ihr Chef ist also nicht zum Aushalten, sie wollen aber nicht schon wieder woanders neu anfangen …“
Natürlich gibt es schicksalhafte Lebenssituationen, die keine wirklich gute Lösung zulassen. Das erklärt manche Verzweiflung. Aber wo ist das therapeutische Thema daran? Wir können ja nicht zaubern. Die Aufgabe besteht für den Therapeuten jedenfalls nicht darin, zur Entschädigung für Lebensschicksale als Klagemauer zu dienen, sondern dem Patienten zu helfen, offen über Bedürfnisse und Wünsche, Ängste und Sehnsüchte zu sprechen – um dann anhand des Maßstabs „Selbstfürsorge“ zu prüfen, was möglich ist, welche Entscheidungen nötig wären, was die nächsten Schritte sein können und welche Unterstützung es dafür braucht.
Oft beruht der dauerhafte Opferstatus bei genauem Hinsehen auf eigenen Entscheidungen (eine Nicht-Entscheidung ist ja auch eine Entscheidung). Statt „ich kann nicht anders“ müsste mancher Patient sagen „ich habe mich so entschieden“. Oder statt „ich kann es mir nicht anders vorstellen“ könnte er sagen „ich habe Angst, es mir anders vorzustellen“. Manchmal fordere ich Patienten auf, solche Umformulierungen immer wieder als verhaltenstherapeutische Übung vorzunehmen.
Es ist durchaus denkbar – und vielleicht sogar bei einer Mehrheit unserer Patienten so –, dass sie sich für ihr altes Leben entscheiden müssen, weil alles andere derzeit unrealistisch ist. Dann müsste es umso wichtiger sein, jene Aspekte in diesem Leben wertzuschätzen, die wertvoll und im Sinne von Lebensqualität förderungswürdig sind. Vielleicht ist „Dankbarkeit“ ein zu sehr moralisch klingender Begriff. Leider klingt „Achtsamkeit“ als Alternativvorschlag mittlerweile auch ziemlich nach erhobenem Zeigefinger (dabei hat Achtsamkeit genauso wenig mit Moral zu tun wie Psychotherapie).
Wie wäre es mit „Positive Psychologie“: Was ist heute schon Gutes passiert? Was könnte noch Gutes passieren? Und morgen? Vielleicht gehört ja zum Guten an manchen Tagen: Dass ich heute mal jammern durfte. Weil ich hier verstanden werde. Auch die Positive Psychologie ist eine paradoxe Psychologie.