Manche Patienten, immer noch sind dies meist Männer, tun sich schwer damit, eine Verletzung einzugestehen. Da kann es schon passieren, dass uns als Therapeuten auf die Frage „Was hat sie so verletzt?“ entgegnet wird: „Mich verletzt? Ich bin nicht verletzt!“ Es stellt einen bedeutenden Fortschritt dar, wenn der Patient auf meine These „Ich spüre da eine tiefe Verletzung …“ oder „Ich an Ihrer Stelle wäre verletzt …“ zumindest nachdenklich bis berührt erscheint.
Von Patientinnen hören wir dagegen öfter: „Ich fühle mich verletzt.“ Oder: „Das hat mich tief verletzt.“ Ich meine: viel zu oft von den gleichen Patientinnen. Meist haben wir eine Vorstellung, was mit „Verletzung“ gemeint ist und wie es sich anfühlt. Es ist wichtig, Patientinnen und Patienten dort abzuholen, wo sie gerade stehen. Wir können echtes Mitgefühl bereitstellen (sonst hätten wir den Beruf verfehlt). Doch wenn wir das Problem wirklich therapeutisch bearbeiten wollen, dürfen wir nicht bei der „Verletzung“ stehen bleiben.
„Verletzung“ tut weh, aber sie ist (noch) kein Gefühl, sondern ein Pseudogefühl. Das klingt ein wenig provokativ, soll aber helfen, eine andere Perspektive zu bekommen. Den Begriff des Pseudogefühls entlehne ich hier aus der Gewaltfreien Kommunikation: Gefühle sind dahinter oder darunter. Angst, Wut, Trauer, Scham …Wer dahin gar nicht spüren und darüber nicht reden möchte, sondern bei „Verletzung“ stehen bleibt, schiebt die Verantwortung für die eigenen Gefühle weg und bleibt in einer Opferrolle und Opferlogik: Da ist der Täter, der hat mich verletzt.
Zweifellos gibt es tiefgreifende Verletzungen der menschlichen Seele, die lange nachwirken (und dabei rede ich jetzt bewusst nicht über die schlimmen frühkindlichen Verletzungen): etwa wenn der Mann die Partnerin mit einer anderen Frau betrogen hat, wenn der ältere Arbeitnehmer, der drei Jahrzehnte gut genug für den Job war und sich darin aufgerieben hat, auf einen Schlag durch einen Jüngeren ersetzt wird, oder wenn die Mutter im Affekt die erwachsene Tochter anschreit: „Ach, hätte ich Dich doch abgetrieben.“ Wie kann man solche Verletzungen überwinden? In der akuten Phase gar nicht. Es braucht räumliche und zeitliche Distanz.
Die Zeit heilt jedoch nicht von allein die Wunden, es kommt darauf an, wie wir die Zeit nutzen. (Dieser schöne Satz stammt nicht von mir.) Wenn also die Wunden auch nach Jahren nicht ansatzweise heilen bzw. bei kleinsten Anlässen wieder aufbrechen, ist es wichtig, nicht bei der Verletzung an sich stehen zu bleiben, sondern wirklich die Gefühle zu untersuchen: Angst, Wut, Trauer, Scham. Die Gefühle von damals und die Gefühle von heute. Dies ist allerdings mit möglichen Veränderungen der Perspektiven (und des Lebens) verbunden, was schon im Vorfeld solche Ängste mobilisiert, dass es für manche Betroffene tatsächlich einfacher ist, sich weiter bei der Verletzung – oder mit zunehmender Zeit in der Verbitterung – aufzuhalten.
Warum ist das einfacher? Weil andere an meinem schlimmen Zustand schuld sind – und viele aus meinem Umfeld verstehen das (oder tun zumindest immer noch so, als ob sie es verstünden). Pseudogefühle lassen alles wie es ist, sie tragen zur Erstarrung, Verhärtung und Verhärmung bei, sie hindern uns daran, etwas zu ändern. Echte Gefühle dagegen sind Signalgeber für Bedürfnisse und damit für Veränderungen. Daher können sie Angst machen.
Für meine Gefühle bin ich selbst verantwortlich, egal, was Du gesagt und getan hast. Für Deine Gefühle bist Du selbst verantwortlich, egal, was ich gesagt oder getan habe. Okay, das mag eine etwas sehr strenge Lehre sein, diese müssen Sie nicht akzeptieren. Aber Ihre „Verletzung“ wird nur heilen, wenn Sie Verantwortung für Ihre Gefühle übernehmen! Es tut genauso weh wie vorher, vielleicht noch mehr, aber jetzt kann es besser werden. Wer das nicht glaubt oder Angst vor diesem Prozess hat, igelt sich gern in der Verletzung ein.
Die Seele sucht sich meist besonders objektiv wirkende Filme oder Erzählungen, in denen sie ihre angestauten Energien verarbeitet. Dies lenkt uns und andere ab von den aktuellen Quellen der Angst, Wut, Trauer und Scham und sorgt mit dem bekannten Film für erfolgreiche Verdrängung: Weil so viele Mitmenschen verstehen, was es mit der Verletzung auf sich hat, ist es einfach, diesen Film gemeinsam ständig anzuschauen – immer wenn es im Leben gerade schwierig ist.
Was ist die Alternative oder anders gefragt: Wie kann ich alte Verletzungen überwinden, altes Leid etwas mehr loslassen? Zunächst einmal ist das kein einmaliger Akt, sondern eine kontinuierliche Übung auf der Basis der Bereitschaft, Verantwortung für meine Gefühle und Bedürfnisse zu übernehmen – und zwar im Hier und Jetzt: Was brauche ich heute? Wie trete ich heute für meine Bedürfnisse ein? Welche Herausforderungen stellen sich mir heute?
In Bezug auf die alten Verletzungen bedeutet es, nicht bei der Verletzung zu verweilen, sondern zu den tatsächlich damit verbundenen Gefühlen weiterzugehen, zu diesen zu stehen: „Ich war entsetzlich traurig“, „Ich hatte solche Angst, alles zu verlieren“, „Ich habe mich so geschämt“ usw. Und auf heute bezogen genauso: Ich habe immer noch eine Riesenwut, wenn ich daran denke. Ich habe nach wie vor Angst, nie mehr (eine solche Arbeit, eine solche Partnerschaft, eine glückliche Familie …) zu bekommen bzw. zu erleben.
Schauen wir uns ein Beispiel aus der Paarberatung an: Die Partnerin (z.B.) bringt ständig die Rede auf die alten Verletzungen, obwohl sich der Partner schon mehrfach, sogar vor mir, dem Therapeuten als Zeugen, entschuldigt hat – ohne aber dass sie genau sagt, um welche Gefühle es damals ging. Oft würde dies nämlich offenbaren, welche Gefühle sie jetzt hat. Wenn der Mann sie damals betrogen oder im Stich gelassen hat, könnte der Grund für ihr Daraufherumreiten heute sein, dass sie derzeit immer noch oder wieder Angst hat, betrogen oder ganz im Stich gelassen zu werden. Dann wird die alte Verletzung bisweilen unbewusst manipulativ eingesetzt und die wiederholte Entschuldigung ist eine Art Ersatzhandlung für das Versprechen des Mannes, es nicht wieder zu tun. Aber Versprechen in diesem Kontext taugen wenig.
Allgemein gesagt, besteht das zweitgrößte Problem vieler Partnerschaften darin, dass einer oder beide nicht sagen können: „Ich habe eine solche Angst …!“ Und das größte? Dass viele diese Ängste nicht einmal spüren! Möglicherweise ist ihre Beziehung ziemlich im Eimer, aber sie reden sie sich und vor mir schön, so als müssten nur die alten Verletzungen geheilt werden und alles wäre (wieder) gut. Da dies eine Illusion ist, werden viele aus Angst vor der Angst „lieber“ depressiv, suhlen sich geradezu in alten „Enttäuschungen“ (auch ein Pseudogefühl) und eben in „Verletzungen“.
Ja, es ist sehr wichtig, sich alte Enttäuschungen und Verletzungen einzugestehen, auch gegenseitig. Besser spät als nie. Doch noch wichtiger ist es, über aktuelle Ängste, Wut und Trauer zu sprechen: „Ich verstehe nicht, dass Du … Das macht mich traurig und macht mir Angst. Wütend bin ich außerdem.“ Aus Angst vor der heiklen Frage: „Wie wichtig bin ich Dir eigentlich?“ und „Woran könnte ich das merken?“ reden sie zum x-ten Male über die angeblichen Sünden der Vergangenheit. Warum „angeblich“? Es gibt keine Sünden. In der Therapie geht es nicht um Moral oder Schuld oder darum, den Bösewicht zu überführen und in die Knie zu zwingen …
Apropos Bösewicht: Der Wert von Entschuldigungen wird total überschätzt und sie werden oft missverstanden. Manchmal braucht es wirklich eine Entschuldigung als Zeichen echten Mitgefühls, damit ein partielles Loslassen des alten Schmerzes möglich wird. Doch echtes Mitgefühl setzt voraus, dass überhaupt echte Gefühle gezeigt werden (ich war traurig, ich war wütend, ich hatte Angst Dich zu verlieren, ich habe mich geschämt, ich habe mich ohnmächtig gefühlt usw.). Verbleiben wir dagegen auf der Ebene der Verletzung, bleibt auch die Aufteilung von Täter und Opfer bestehen, das bedeutet nichts Gutes für die „Entschuldigung“ und bessert sichert nicht die Prognose für die Partnerschaft. So können scheinbar erfolgreiche Paarberatungstermine (er hat sich bei ihr entschuldigt) das Tor für ein Beziehungsende aufstoßen, denn eine solche Pseudo-Entschuldigung (die durchaus ehrlich gemeint sein kann) zementiert diese Rollen von Täter und Opfer. Das kann z.B. dazu führen, dass der „Täter“ über kurz oder lang lieber ganz das Feld räumt und damit die Verletzung auf andere und oft schlimmere Weise reinszeniert wird.
Eine Entschuldigung ist v.a. dann zwingend erforderlich, wenn wirklich Schuld vorlag, also etwas in böser Absicht getan wurde, z.B. um den andern gezielt zu verletzen. Dann stellt sich natürlich die Frage, warum man eine solche Beziehung überhaupt retten möchte …
Wer gelernt hat, für seine Gefühle und Bedürfnisse Verantwortung zu übernehmen, kann von der sog. Praxis der Desidentifikation profitieren, die sowohl in der Therapie als auch in der Meditation zur Anwendung kommt. Von einer Beobachterperspektive aus kann ich immer sagen: „Ich habe gerade mal wieder eine Riesenwut, aber ich bin nicht diese Wut.“ Oder: „Ich habe eine Wunde, eine schwere Verletzung erlitten, aber ich bin nicht diese Verletzung.“
Hinter dieser Praxis der Selbststeuerung steckt die buddhistische Vorstellung des „Nicht-Anhaftens“ (oder eben der Nicht-Identifikation). In der Therapie aber haben wir es oft mit Patient*innen zu tun, die scheinbar um jeden Preis, nämlich den Preis der Zukunft, anhaften „wollen“ und daher verständlicherweise mit solchen Praktiken nichts anfangen können bzw. viel Widerstand dagegen zeigen. Warum „wollen“ sie anhaften? Um nicht auf die aktuellen und realen Ängste, Herausforderungen und Frustrationen zu schauen, wenden sie sich immer wieder alten Verletzungen zu.
Nur wenn wir die Opferrolle verlassen, geben wir uns selbst die Erlaubnis und den Auftrag, weiterzugehen im Leben, statt uns weiter in der Vergangenheit zu verhaken. Selbstverständlich sind jedoch auch der oder die, die noch in der Opferrolle festhängen, weder Bösewichte noch schlechte Patient. Sie sind einfach: am Anfang. Nicht am Ende.
Es ist alles komplexer und komplizierter: Oft trauen sich die Patient*innen gar nicht zu, ihr Leben nach ihren Bedürfnissen und Wünschen gestalten zu können – und in diesem Zustand hilft es ihnen und uns auch nicht, sie auf die Eigenverantwortung zu stoßen. Therapie ist eben ein langwieriger und oft kleinschrittiger Prozess. (Aber Sie, als Leser meines Blogs wissen auch: Therapie ist keine Strafe, sondern eine Chance, ein Geschenk!)
PS. Vielleicht fragen Sie sich, warum ich hier die heißen Erkenntnisse aus der Paarberatung verrate, obwohl ich doch mit Ihnen zwei- oder dreimal 150 Euro Paarberatung daran hätte verdienen können 🙂 Erstens bin ich in der glücklichen Lage, nichts verkaufen zu müssen. Und zweitens denke ich, die wenigsten Paare können diesen Prozess alleine erfolgreich durchlaufen, da es oft den neutralen Begleiter benötigt, der die Schwelle stellvertretend für die Partner überschreitet: „Also, ich an Ihrer Stelle wäre da ziemlich wütend …“, „Mir würde das ganz schön Angst machen, wenn …“ D.h. leider nicht, dass sie mit mir oder jemand anders sicher erfolgreich sind.