A wie Aggression(shemmung)

In unserem Erziehungsprozess lernen wir, Gefühle zu regulieren, auch zu unterdrücken, Bedürfnisse bzw. ihre Befriedigung aufzuschieben, auch Bedürfnisse ganz zu verdrängen. Das Erlernen von Anpassungsfähigkeit ist zunächst einmal notwendig, um als soziale Wesen zurechtzukommen. Problematisch wird es, wenn diese Mechanismen zu gut oder zu mechanisch funktionieren, wenn es zur Überanpassung kommt und die Betroffenen ihre Gefühle nicht mehr wahrnehmen können („weiß nicht“, „passt schon“) und ihre Bedürfnisse nicht mehr spüren. Das geht tendenziell in Richtung Depression.

Ich habe mich hier mehrfach damit befasst, wie die systematische Unterdrückung bzw. Verdrängung von Ängsten oder Trauer zu Depressionen führt oder maßgeblich dazu beiträgt. Mit unterdrücktem Ärger und verdrängter Wut verhält es sich ähnlich, übermäßig aggressionsgehemmte Menschen neigen zu Depressionen. Doch was ist „übermäßig“, woran machen wir das fest? Beispielsweise, wenn Menschen schon ein einfaches Nein als Reaktion auf einen Wunsch als „aggressiv“ bzw. „verletzend“ verstehen. Oder wenn sie schlimme Erfahrungen aus ihrem Leben erzählen, und wir als Therapeut oder die Mitpatienten werden „stinksauer“, sie selbst können aber diese Wut nicht empfinden. Manchmal zeigt sich der unterdrückte Ärger auch in passiv-aggressivem Verhalten, also subtil-abwertendem Kommunikationsstil, Lästern, auch ständigem Jammern; und nicht zuletzt: vorwurfsvollem Schweigen. Therapeuten sagen dann manchmal: Der oder die Betreffende „sitzt“ auf viel Wut.

Im Rahmen der Psychotherapie bedeutet „Erwachsen werden“ (auch), diese Überanpassung erkennen und lernen, sie abzulegen. Erkennen: Es ist nicht gesund, extra brav und überangepasst zu sein, es kommt niemand mehr (Mami oder Papi) und belohnt mich dafür. Und: Ich nerve andere mit dem Ärger, den ich besser selbst empfinden und ausdrücken sollte. Erlernen: Verantwortung zu übernehmen für ein angemessenes Verhalten und sich nicht auf ein kindliches „ich kann das nicht“ zurückziehen.

Das Wiedererlernen vom Fühlen der Gefühle und Spüren der Bedürfnisse sowie der Sorge für ihre Befriedigung könnte man allgemein als emotionsfokussierte Psychotherapie bezeichnen (obwohl schon gewisse Schulen wie die Bonding-Psychotherapie diese Bezeichnung für sich reklamieren). Sie ist „aufdeckend“, d.h. bringt die Betreffenden an ihre Grenzen, lässt sie erfahren, wie sie sich selbst beschränkt und begrenzt haben und wie viel ihnen dadurch, also durch erlernte Überanpassung, an Leben entgangen ist und immer noch entgeht. Dies kann mit heftigen Emotionen (Trauer, Scham, Selbsthass) und entsprechend mit Phasen der Instabilität verbunden sein.

Muss die Wut denn raus? Ja, schon, aber … Die Formulierung „die Wut rauslassen“ ist mehrdeutig und kann irreführend sein. Die Wut muss zugelassen und auch ausgedrückt werden. Wenn damit noch wenig Erfahrung und Übung besteht, kann es durchaus vorkommen oder sogar therapeutisch provoziert werden, dass Patienten mal übertreiben. Solange dies spielerischen und experimentellen Charakter hat, ist es meist hilfreich für die Therapie. Wenn sich der Patient dabei aber wiederholt in eine Rage steigert, in der er keinen halbwegs klaren Gedanken mehr fassen, wirklich „austickt“ und nichts mehr reflektieren kann, wird er (sie) in der Regel wenig profitieren.

Häufig haben wir allerdings eher mit massiver Hemmung als mit Überschuss zu kämpfen: Patienten bestehen quasi darauf, dass sie „das“ nicht können (Wut ausdrücken). Das liegt meist daran, dass sie nicht gelernt haben, erwachsen mit Scham umzugehen. Wenn wir uns anders zeigen, als wir es gewohnt sind und andere uns kennen, meldet sich Scham. Mehr noch, wenn wir uns zeigen in einer Weise, die von dem abweicht, was wir in der Erziehung meinen gelernt zu haben („ein braves Mädchen macht das nicht“), meldet sich Scham. Es kommt auch vor, dass die Betroffenen Erfahrungen mit unkontrollierter Aggression ihrer Bezugspersonen gemacht haben und sich auf gar keinen Fall so zeigen wollen wie Mama oder Papa.

Selbst nach Jahren regelmäßiger und intensiver Aggressionsarbeit mit Patientinnen und Patienten ist mir das Wort „Aggression“ immer noch unheimlich. Ich habe auch den Eindruck, der Begriff schreckt viele Patienten von einem sinnvollen Ausdruck von Wut und Einsatz für ihre Grenzen ab. Ich lasse „Aggression“ zwar manchmal bewusst locker fallen oder provoziere mit Aussagen wie „Naja, die gehört halt zum Leben dazu“. Aber ich habe eigene Zweifel, ob es so stimmt: Manche Begriffe sind mit so viel negativen Assoziationen überladen, dass eine positive Nutzung schwierig ist. So z.B. lehne ich es ab, von „gesundem Egoismus“ zu sprechen: Wenn jemand für sich, seine Gefühle und Bedürfnisse eintritt, ist das kein „Egoismus“, auch kein gesunder, denn der Begriff „Egoismus“ hat m.E. viel zu viele negative und moralische Assoziationen, um etwas so Positives wie Selbstfürsorge zu bezeichnen. Mir scheint es ähnlich mit der „gesunden Aggression“ zu sein, da passt etwas nicht zusammen.

Es geht um die Überwindung einer ungesunden, übertriebenen Hemmung von Selbstfürsorge und Selbstbehauptung, Klarheit und Willenskraft, Abgrenzungsfähigkeit und Durchsetzungsvermögen – und, ja, schon auch darum, eine übermäßige Hemmung, anderen etwas zuzumuten, zu überwinden, mit Ärger umgehen lernen. Das ist häufig viel subtiler, als dass man sagen könnte: „Sie müssen aggressiver werden.“ Aber solange wir noch keinen passenderen Begriff haben, nennen wir die nötige therapeutische Arbeit eben Aggressionsarbeit.

„Kann ich Dir etwas erzählen?“ „Wollen wir zusammen Eis essen gehen?“ „Magst Du mit mir Spazierengehen?“ usw. Wer schon ein einfaches „Nein“ gegenüber solch harmlosen Wünschen scheut, weil er den andern nicht „verletzen“ will, braucht dringend Aggressionsarbeit. Im Innern der Betreffenden staut sich, verdrängt und verzerrt, Aggression auf: Wer es andern immer recht zu machen versucht bzw. sich nicht traut, es mal nicht recht zu machen, der müsste sich eigentlich ärgern und tut es unbewusst auch. Nicht zu vergessen: Solcher unbewusster Ärger wächst auch und erst recht, wenn die Betreffenden sich nicht trauen, selbst Bedürfnisse und Wünsche zu äußern! Das macht ja die eigene Unfähigkeit, Nein zu sagen, noch unerträglicher – wenn andere etwas wollen, also diese sich das trauen.

„Gesunde Aggression“ würde also nicht nur „Nein sagen“ bedeuten, sondern auch positiv Willenskraft ausüben, sich bedürftig zeigen, sich etwas wünschen, für sich eintreten und, ja, dabei etwas riskieren (eine Absage oder Widerstand). Was hält uns davon ab, dass wir solche „gesunde Aggression“ zeigen? Unsere Werte?

Was Patienten nach meinen Erfahrungen abhält, sind zum einen moralische Normen: verinnerlichte, v.a. elterliche oder gesellschaftliche Stimmen wie „Brave Mädchen tun das nicht“ oder „Du sollst Vater und Mutter ehren“. Verwandt damit ist der innere Kritiker, der uns einredet „Das bist Du nicht!“ oder „Das passt nicht zu Dir …“ Auch dahinter können frühkindliche Erlebnisse und Prägungen stecken, etwa die Erfahrung, als chancenloser Schwächling ausgelacht zu werden, wenn wir als Kind Aggression zeigten. Dies steht in Verbindung mit der Scham, uns zu zeigen mit etwas, was lange keiner oder noch kaum einer gesehen hat und wenn, dann war es eben in schambesetzten Situationen, etwa wenn wir ausgelacht wurden.

Scham meldet sich auch, wenn die Differenz zwischen Auftreten und gewünschtem Selbstbild zu groß ist: Häufig glauben Patienten, sich angemessen vertreten und durchsetzen, würde bedeuten, dabei ganz souverän aufzutreten, gleichzeitig entschieden, stark und ruhig zu erscheinen. Nein! In vielen wichtigen Konflikten des Lebens werden Sie nicht mit einer solchen tollen Performance vom Platz gehen können, entscheidend ist, dass Sie (dennoch) für sich sorgen, auch wenn es Tränen gibt, Sie vor Angst zittern oder sich hinterher schämen.

Es kann auch andere Hemmnisse geben: Wer als Kind Erfahrungen gemacht hat, dass Aggression immer grenzenlos, ausufernd, nicht zu kontrollieren ist, oder auch, dass es gefährlich sein kann, Ärger und Wut zu zeigen oder für sich zu kämpfen, der braucht oft erst Therapie und speziell Arbeit mit dem inneren Kind, so dass dieses sich jetzt in Sicherheit fühlen muss, bevor sich eigene Aggression zeigen kann. Das heißt auch: Aggressionsarbeit eignet sich nicht für alle Patienten und in jeder Phase; oft gerade (noch) nicht für die Patienten, für die wir uns am meisten mehr „gesunde Aggression“ wünschen würden.

Therapeutische Aggressionsarbeit beinhaltet, dass der Klient lernt, seine aggressiven Impulse erwachsen zu regulieren. Regulieren lernen heißt: Mal ist es zu viel, mal ist es zu wenig, mal tut es gut, mal eher nicht – heißt Erfahrungen machen, reflektieren, auswerten, etwas Neues probieren. Therapie, die wirklich etwas ändert am Leben, ist mit Grenzüberschreitungen verbunden, das ist an sich weder traumatisch noch katastrophal, aber wie gesagt, man kann diese Arbeit nicht mit Patient*innen machen, die nicht hinreichend stabil und selbstregulationsfähig sind.

Außerdem, wie immer in der Therapie, gilt es zu bedenken: Wir dürfen die Messlatte nicht zu hoch legen! Wir können niemand und wollen niemand „umstricken“. Zum einen ist es eine Illusion anzunehmen, mit einigen Sitzungen oder Stunden „Aggressionsarbeit“ könnte sich viel ändern, zumal wenn der Patient nicht immer wieder kleine Wagnisse im Alltag riskiert und Erfolge mit dem Ausdruck von Wunsch und Willenskraft hat. Zum andern wollen wir Selbstbehauptung und Konfliktbereitschaft verbessern. Wir können jedoch nicht versprechen, dass dies gerade für die wichtigsten Konflikte im Leben des Betreffenden (Partnerschaft, Arbeitsplatz, Herkunftsfamilie) hilfreich ist, außer dass er oder sie sich bewusst macht: „Es gibt Situationen und Konstellationen, in denen kann ich mich behaupten, und es gibt solche, in denen gelingt mir das nicht.“ Daher muss er (sie) solche Konstellationen meiden oder sich dafür starke Unterstützung holen – und jedenfalls nicht den eigenen Selbstwert davon abhängig machen, wie durchsetzungsstark er (sie) ist!

Das wichtigsten „Learning“ in der Therapie besteht in der Erkenntnis und Umsetzung, wie Sie Selbstliebe, Selbstfürsorge und Selbstvertrauen steigern können. Aggressiv sein oder auftreten zu können, ist dafür nicht zwingend erforderlich. Die größte Hürde besteht also nicht in der Aggressionshemmung, sondern darin, wirklich offen von seinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen zu sprechen. Das ist nicht immer, aber oft eher etwas Sanftes.

PS. Wer auf ganz viel Wut zu sitzen scheint oder auch wiederholt übertrieben Wut ausdrückt, hat diese Wut nicht unbedingt ewig angesammelt oder gespeichert. Manchmal ist es ein eher gewohnter Mechanismus, um den Betreffenden vor noch schmerzhafteren Gefühlen wie Angst, Trauer und Scham zu „schützen“. Das erklärt manchmal die Wucht hinter der Wut. Ich sage dann manchmal in der Therapie: „Ich glaube gar nicht, dass Sie eine Riesenwut haben, Sie haben eine Riesenangst, dass lässt Sie so wütend wirken.“