Alle großen Leute waren einmal Kinder, doch nur wenige erinnern sich daran. …
Die großen Leute verstehen nie etwas von selbst. Für die Kinder ist es zu mühsam, ihnen immer wieder alles erklären zu müssen. …
Die großen Leute lieben nämlich Zahlen. Wenn ihr euch über einen neuen Freund unterhaltet, wollen sie nie das Wesentliche wissen. Sie fragen dich nie: „Wie ist der Klang seiner Stimme? Welche Spiele liebt er am meisten? Sammelt er Schmetterlinge?“ Sie wollen lieber wissen: „Wie alt ist er? Wie viele Brüder hat er? Wieviel wiegt er? Wieviel verdient sein Vater?“ Erst dann werden sie glauben, ihn zu kennen. Und wenn ihr den großen Leuten erzählt: „Ich habe ein sehr schönes Haus mit roten Ziegeln gesehen, mit Geranien vor den Fenstern und Tauben auf dem Dach …“ werden sie sich das Haus nicht vorstellen können. Ihr müsst vielmehr sagen: „Ich habe ein Haus gesehen, das hunderttausend Franken wert ist.“ Dann kreischen sie gleich: „Oh, wie schön!“
(Aus: Der kleine Prinz)
Vielleicht verbindest Du mit „erwachsen“ ziemlich abschreckende Assoziationen. Denken wir nur daran, wie der Kleine Prinz von den Erwachsenen spricht. Und recht hat er: Wenn wir bei „erwachsen“ an erlernte Eigenschaften wie vernünftig-berechnend, überangepasst-leistungsorientiert, vergleichend-verurteilend u.ä. denken, können wir es nicht als sinnvolles oder attraktives Ziel verstehen, noch mehr so zu werden.
Ich will gar nicht erwachsen werden! Manche Patient:innen können dies so klar sagen. Dabei handelt es sich nicht nur um 20- oder 21-jährige, und die „Dunkelziffer“ ist groß, d.h. es gibt viel mehr, die es auch nicht wirklich attraktiv finden, erwachsen zu werden, aber es nicht benennen. Doch es geht nicht anders: Erfolgreiche Therapie beinhaltet, erwachsen zu werden.
„Wie alt fühlen Sie sich gerade?“ oder „Wer spricht da eigentlich gerade?“ Solche Fragen gehören seit Langem zum Alltag in der Therapie. Im Grunde waren dies schon in der Psychoanalyse zentrale Fragen (obwohl es dem Analytiker viel zu „direkt“ wäre, so explizit zu fragen). Meist dienen sie dazu, dem Patienten bewusst zu machen, dass ein kindlicher Anteil im Vordergrund steht und ein altes Erleben wiederholt oder ein frühes Erlebnis reinszeniert wird. Das kann therapeutisch erwünscht sein, als Durchgangsstadium oder als vorübergehender Rückfall (nennen wir es mal „Regression“). Letztlich geht es in der Therapie allerdings darum, dem Patienten zu helfen, noch mehr erwachsen zu werden. Da dies so abschreckend klingt, diese These stelle ich hier mal zur Diskussion, hat sich die Redeweise von der Arbeit mit dem inneren Kind durchgesetzt. Auch gut.
Was findest Du daran attraktiv, erwachsen zu sein oder zu werden? Mir würde vor allem die Selbstbestimmung einfallen. Aber viele Erwachsene leben ziemlich fremdbestimmt und trauern der Freiheit von Kindheit und Jugend hinterher (die sie hatten oder nicht hatten). D.h. der Patient und sein inneres Kind sind von schlechten Vorbildern umgeben.
Wichtig ist also, was wir unter „erwachsen“ verstehen: Jedenfalls nicht automatisch, die Ansprüche und Normen der Gesellschaft noch besser zu erfüllen. In der Therapie ist das Ziel zu wachsen – was vielleicht besser als „erwachsen“ ausdrückt, dass es um einen dauerhaften Prozess der Wandlung geht – nach meinem Verständnis nicht mit konkreten moralischen Ansprüchen verbunden. Moral hat in der Therapie ohnehin wenig zu suchen, es geht nicht um Gut und Böse oder etwa darum, wer der Schuldige ist. Allerdings ist es schon ein moralischer Anspruch: dass der Patient lernt, mehr und mehr Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, was auch immer das im Einzelnen heißen mag. Eigenverantwortung bedeutet: so viel Selbstfürsorge wie möglich zu betreiben, und zwar auch für die inneren kindlichen Anteile – und dies nicht länger Partnern, Eltern, Kindern oder Therapeuten zu überlassen.
Heute reden viele „vom inneren Kind“, doch Moment mal: Das wird zu oft wie eine „Erlaubnis“ (miss)verstanden, sich anhaltend kindisch zu benehmen oder die eigenen infantilen Wünsche als legitime Bedürfnisse zu rechtfertigen nach der Devise: „Meine Kleine braucht jetzt …“
Die Arbeit mit dem inneren Kind ist eine Arbeit. Ja, sie darf und kann immer wieder auch Spaß machen, aber sie ist kein reines Vergnügen, denn sie beinhaltet, das innere Kind an die Hand zu nehmen, damit es den Erwachsenen und sein Umfeld nicht länger mit seinen Ängsten und Wünschen dominiert oder „terrorisiert“! Den härtesten Job bei dieser Arbeit hat der Patient. (Wie immer …)
Therapie als Wachstumsprozess, darin steckt viel Wahres, u.a. dass Therapie keine Strafe ist, sondern eine Chance und ein Geschenk. Allerdings, manchmal tut es weh, wenn man wächst und erwachsen wird. Therapie stellt eine Unterstützung bei diesem schmerzhaften Prozess dar. Der Klient wird in seinen kindlichen Anteilen genährt, reift dabei „nach“, um Schritt für Schritt noch mehr Eigenverantwortung zu übernehmen.
Vieles an dieser Arbeit wirkt so widersprüchlich, weil Therapie voller Paradoxien steckt: Als Therapeuten wollen wir den Patientinnen und Patienten helfen, sich erwachsener zu verhalten, aber gleichzeitig spielen wir Mama oder Papa. Mal ist diese „Übertragung“ (alter Rollen) hilfreich, mal muss sie konfrontiert und aufgelöst werden. Immer sollte uns als Therapeuten bewusst sein: Es ist kein Automatismus, dass der Patient am Ende der Therapie erwachsener hinausgeht ins Leben, wir müssen beide (!) viel dafür tun, dass er nicht von uns adoptiert wird, sondern sich bzw. sein inneres Kind selbst adoptiert.
Wir zeigen dem Patienten idealerweise, wenn wir seine(n) Kleine(n) entdecken, wie man mit diesem liebevoll umgeht, wie man für das innere Kind richtig sorgt. Wenn es traurig ist, setzen wir uns mit ihm hin und trauern (ich kenne Therapeut:innen, die das inklusive Weinen machen), wenn es wütend ist, helfen wir ihm, die Wut mutig auszudrücken, wenn es in Scham versinken möchte, geben wir ihm klare Signale, dass es so, wie es ist, wunderbar und erwünscht ist. Und so bringen wir dem Patienten bei, sein Kind zu regulieren. Es geht dabei aber nicht darum, tagelang zu weinen oder wütend in Rage alles kurz und klein zu schlagen. Bei der Scham ist es noch am einfachsten zu erkennen, dass es immer den erwachsenen Anteil braucht, damit das Kind nicht im Gefühl ertrinkt.
Unser liebevoller Umgang mit dem inneren Kind des Patienten könnte von diesem so missverstanden werden, als würden wir generell regressives Verhalten belohnen. Manche Patient:innen verhalten sich anhaltend kindlich bis kindisch, überlassen dem inneren Kind die Führung und warten auf Zuwendung, und wir Therapeuten reagieren manchmal zu lang und zu oft mit ganz viel Verständnis. Doch Therapie besteht nur zu 51% aus Empathie, der Rest ist Herausforderung – für Patient und Therapeut.
Damit auch dieser Teil lohnenswert und attraktiv für den Klienten ist, muss es Motive geben, erwachsen werden zu wollen. Hier geht es um ein anderes therapeutisches Paradoxon: Je mehr Du wirklich erwachsen wirst und Eigenverantwortung übernimmst, desto mehr bekommt auch Dein inneres Kind ab. Das Kind will eigentlich wachsen und erwachsen werden, es traut sich nur so wenig zu. Es hat Angst (und fragt sich auch manchmal, was erlaubt ist).
Wenn Du in diesem Sinne wächst, wirst Du immer wieder wie ein Kind, wirst Freude finden im Spiel und am kreativen Ausdruck: singen, tanzen, malen, schauspielern, toben, Gras zupfen, auf Bäume klettern – ohne Bewertung und Leistungsstress. Just for fun. Es gehört zu den kräftigsten Wirkfaktoren von Therapie, dem zivilisatorischen Terror von Perfektionismus, Leistungsmaßstäben und Sinnhaftigkeit für Zeiten spielerisch und kreativ zu entsagen.
Für normativ gedrillte, überangepasste Erwachsene muss alles sinnvoll und anerkennenswert sein. Kinder würden dagegen, wenn man sie ließe, viel mehr nach dem „Lustprinzip“ leben. „Erwachsen werden“ im Sinne der Therapie meint also auch, das Kind immer wieder hervorzulocken und zu unterstützen; ohne dabei in kindliche Illusionen und Phantasien in Bezug aufs reale Leben zu verfallen, so als wäre dies ein reines Spiele-Paradies.
Es winken Spiel, Spaß und Freude, wenn das innere Kind spürt, dass es geliebt wird, wenn wir uns selbst als ganzen Menschen und unabhängig von unseren Leistungen annehmen. Pioniere der inneren-Kind-Arbeit wie Erika Chopich/Margaret Paul („Aussöhnung mit dem inneren Kind“) oder John Bradshaw („Das Kind in uns“) berichteten schon vor 35-40 Jahren, dass die volle Bandbreite der Emotionalität und sogar die Fähigkeit zur spirituellen Empfindung an die liebevolle Verbindung mit dem inneren Kind gekoppelt ist. Chopich/Paul nennen diese Verbindung daher „das höhere Selbst“, Bradshaw spricht von der „natürlichen Spiritualität“ des Kindes, die wiederentdeckt werden kann: Das geliebte Kind hält sich zurecht für ein Kind Gottes, lebt im Einklang mit der Schöpfung und hat viel Neugier.
Solange keine (liebevolle) Verbindung zum inneren Kind besteht, solange dieses weiter argwöhnt, dass etwas mit ihm nicht stimmt, wird es sich aus seiner existenziellen Scham heraus verstecken wollen. Und der erwachsene Anteil, der es unbewusst zu schützen versucht, wird daher unangenehme Gefühle wie Angst, Trauer, Wut und Scham zu vermeiden suchen, wird den Schmerz in sich abkapseln – und darüber depressiv werden. Es braucht Mut, ein liebevoller Erwachsener für das innere Kind zu werden, das können wir Therapeuten den Klienten vormachen. Und es braucht ganz viel Übung und Geduld, das können sie nur selbst auf sich nehmen.
Es ist eine lebenslange Aufgabe: uns wirklich selbst lieben zu lernen. Sie hat primär nichts mit Egoismus oder Narzissmus zu tun, sondern damit, dass wir unserem kindlichen Anteil gegenüber immer neu jene ideale „Eltern“ werden, die uns ohne Ansprüche und Leistungserwartungen als „Geschenk Gottes“ geliebt hätten. Das ist nicht nur eine Einstellung, sondern beinhaltet ein Handeln: Dem Kind zeigen, dass wir uns trauen, ins Leben und auf andere zuzugehen. Und dass wir ihm klar machen, zu zweit (erwachsener und kindlicher Anteil) sind wir nie mehr so hilflos, wie wir uns als Kind gefühlt haben.
Der Sinn des Lebens, schreiben Chopich/Paul, bestehe darin, die vollständige Liebe zu uns und zu anderen, letztlich zu jedem Menschen zu entwickeln – und dies gelinge uns, indem wir mehr und mehr lernen, ein liebevoller Erwachsener für unsere inneres Kind zu werden. Mit Spiritualität und dem Sinn des Lebens bin ich als Philosoph etwas vorsichtiger 😉, aber egal, was die Arbeit mit dem inneren Kind verheißt, sie ist alternativlos in der Therapie: uns zu den kindlichen und noch „unerlösten“ Anteilen in uns zu bekennen und sie zu erlösen.
PS. Als Therapeut habe ich die Chance, gewissermaßen auch den umgekehrten Weg zu beschreiten: Indem ich alle Menschen lieben lerne, signalisiere ich meinem Kleinen, dass alle Aspekte an ihm da sein dürfen, auch das, wofür er sich schämt und was er für Schattenseiten hält. Muss man dafür Therapeut sein? Ich glaube nicht.