Im Gedenken an JEAN-FRANÇOIS
Was war vor unserer Zeit, was wird danach sein? Was ist jenseits unserer Welt? Auf die „letzten“ Fragen – wie die nach der Unendlichkeit von Raum und Zeit aber auch die prominentere Frage nach dem Sinn des Lebens – gibt es keine verbindliche Antwort im Sinne einer beweisbaren Aussage, kann es keine geben. Gottesbeweise wurden im Mittelalter versucht und sind teilweise immer noch faszinierend: Diese Welt voller Wunder kann doch kein Zufall sein! Und irgendwem muss doch diese innere Stimme gehören, die uns sagt, was richtig und falsch ist … Aber diese Beweise gehören doch der Vergangenheit an, sofern damit der Anspruch gemeint ist, etwas rational zu begründen, was jenseits reiner Rationalität liegt. Hinter die Aufklärung geht es nicht zurück, sollte es auch nicht zurückgehen, meine ich.
Müssen wir deshalb das Fragen der letzten Fragen einstellen? Dies ist unmöglich. Ja, schon, wir könnten so tun, als ob da keine Fragen wären. Und ja, wir verdrängen im Alltag vieles, die letzten Fragen sowieso. Aber im Grunde können wir, um ein berühmtes Gesetz von Paul Watzlawick (Wir können nicht nicht-kommunizieren!) abzuwandeln, nicht nicht-Glauben.
Der Atheist glaubt: „Da (jenseits/außer des wissenschaftlich Begreifbaren) ist nichts.“
Der religiöse Mensch glaubt: „Da ist Gott.“
Der Agnostiker sagt: „Ich weiß nicht, ob und was da ist.“ Oder auch: „Woher soll ich das wissen!“
Vermutlich sind die meisten Menschen hierzulande heute Agnostiker, ohne es zu wissen. Ich bin auch so etwas wie ein Agnostiker. Nachdem ich mich vom Katholizismus und vom Kommunismus „befreit“ habe und sehe, dass auch alle Varianten von Liberalismus weit überwiegend aus Ideologie bestehen, da finde ich jeden „ismus“, selbst den Agnostizismus verdächtig und fast beklemmend wie eine Schublade. Es klingt immer so, als hätte jemand die Wahrheit gepachtet. Gerade bei diesem Thema geht es nicht um die ewige Wahrheit.
Ich glaube nicht an Gott, aber an einen göttlichen Kern in jedem Menschen und an ein höheres Selbst, an eine Verbindung mit dem, was über das rational Begreifbare hinausgeht, eine Verbindung, die wir suchen, der wir Raum geben können. Ich meditiere manchmal. Und ich finde beten nicht rundum abwegig, auch für mich nicht.
Agnostiker:innen erscheinen manchmal „weder Fisch noch Fleisch“ oder moderner gesagt wie: weder Carnivore (Fleischesser) noch Vegetarier. Eine(r), der (die) sich nicht entscheiden kann? Vielleicht. Jedenfalls ist der Agnostizismus philosophisch keinesfalls karge Fastenkost im Vergleich etwa zu den Reichtümern des religiösen Glaubens oder auch der Entschiedenheit des Atheisten und seiner Begeisterung für den Kampf um Aufklärung. Aber so ist es nicht.
Es gibt das Andere der Vernunft und es darf gelebt werden. Alternativ würde ich, auch wenn bildliche Vorstellungen dort, wo es um ewige Wahrheiten gehen soll, etwas gefährlich sind, sagen: Es gibt die andere Seite hinter oder jenseits der, die uns zugewandt ist (siehe unten). Der Agnostizismus öffnet den Raum für alle Arten von Spiritualität, solange sie sich nicht für wissenschaftliche Erkenntnisse oder Wahrheiten halten! Das fasziniert mich an fernöstlicher Spiritualität und Philosophie, wie sie uns im Zen oder auch im Daoismus begegnet: Die Festlegung auf die Nicht-Festlegung, das Bewusstsein für die vielen Paradoxien in der Welt und im Leben – und ganz speziell im Glauben: „Wenn Du ihn greifen willst, greifst Du daneben.“ „Verschwende Deinen Verstand nicht auf eine Aufgabe, der er nicht gewachsen ist.“ Und die (ich nenne sie hier mal) fernöstliche Wertschätzung des Augenblicks: das Erstaunen gegenüber dem Wunder Leben und die Freude an den kleinen Dingen.
Agnostizismus ist zwar eine philosophische Haltung, in Bezug auf die Frage nach Gott (also nicht nur nach Spiritualität, sondern der Existenz eines Gottes) könnte man ihn aber auch als eine Form der Theologie verstehen, es gibt größere Schnittmengen mit der sog. negativen Theologie, die „positive“ Aussagen über Gott (positiv im Sinne von Zuschreiben konkreter Eigenschaften) für unmöglich hält: Der Mensch sei eben unvollkommen, gerade auch in punkto Erkenntnis, und könne daher nichts Konkretes darüber erkennen oder behaupten, was das Vollkommene schlechthin ausmache. Interessanterweise gehören zu dieser Richtung geistige und religiöse Kapazitäten, die Glauben keinesfalls als staubtrockenes Knäckebrot für schlechte Tage praktizierten, wie etwa der christliche Mystiker Meister Eckart.
Glaube kann Halt geben und Trost spenden. Das ist mindestens ein Aspekt, warum wir ihn aus der Therapie nicht heraushalten sollten, sondern eher auch hier: den Raum dafür freimachen. Es hat immer wieder Psychologen gegeben, die Glauben als ein elementares Bedürfnis des Menschen verstehen. So hat Abraham Maslow seine berühmte Bedürfnispyramide vor seinem Tod ergänzt um das höchste Bedürfnis nach „Transzendenz“. Warum vor seinem Tod? Ich finde es einen sehr tröstlichen und manchmal geradezu aufheiternden Gedanken, dass mit dem Tod ein besseres, freieres Leben beginnt. Daher werde ich nun am Ende zwei im wahrsten Sinne geflügelte Worte von christlichen „Philosophen“ zitieren, die in diese Richtung gehen.
Und: an manchen Tagen kann ich fast gar nichts damit anfangen. Manchmal ist es so wie mit anderen Dingen in der Philosophie, der Psychologie und Psychotherapie – und im „wahren“ Leben: Gerade wenn Du es dringendsten zu brauchen scheinst, kannst Du es nicht „abrufen“, kommst Du nicht in Kontakt damit. Vermutlich weil Du Dich daran festhalten willst, um nicht noch tiefer zu fallen. Aber wir müssen fallen, tief, manchmal. Um zu merken, dass es Halt gibt, in uns und in anderen.
AUFERSTEHUNG
Der Tod ist die uns zugewandte Seite jenes Ganzen,
dessen andere Seite Auferstehung heißt.
(Romano Guardini)
ZUGVÖGEL
Obwohl wir Gott nie gesehen haben, sind wir wie Zugvögel, die, an einem fremden Ort geboren, doch eine geheimnisvolle Unruhe empfinden, wenn der Winter naht, einen Ruf des Blutes, eine Sehnsucht nach der frühlingshaften Heimat, die sie nie gesehen haben und zu der sie aufbrechen, ohne zu wissen wohin.
(Ernesto Cardenal)