Sie sprechen mit einem guten Freund über Ihre Partnerschaft und klagen ihm Ihr Leid. Auf einmal gerät der mitfühlende Freund richtig in Rage und schimpft ordentlich auf Ihre Partnerin. Ihnen wird sofort ganz unwohl. Zum einen denken Sie: „Ich darf das, aber er nicht – über sie schimpfen.“ Zum andern schämen Sie sich, dass sie die Steilvorlage geliefert haben und gegenüber Ihrer Partnerin illoyal waren. So etwas passiert auch in der Therapie. Nicht unbedingt, dass der Therapeut auf Ihre Partnerin schimpft, aber dass er Sie mit Ihrem Ärger „sieht“ und bezeugt – das kann für Sie unangenehm sein, weil sie nicht illoyal gegenüber Ihrer Partnerin sein wollen. Doch die Aufgabe von Loyalität ist eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie.
Nehmen wir an, im genannten Beispiel wäre es nicht um Ihre Partnerin, sondern um Ihre Mutter gegangen. Bei vielen Patient*innen besteht ein großer Widerstand, über die eigenen Eltern „schlecht zu reden“. Aber wie wollen wir zu unserem bedürftigen Kern, zu unseren inneren Wunden, aber auch Wünschen vordringen, wenn es aus Gründen der Loyalität derart feste Tabus gibt?
Loyalität ist so etwas wie Treue, eine spezielle Art von Verbundenheit, man könnte auch von treuer Ergebenheit sprechen. Für mich klingt in „loyal“ fast automatisch ein „obwohl“ mit: „Ich war immer loyal …“ (…obwohl ich gute Gründe gehabt hätte, es nicht zu sein). Manchmal haben wir als Außenstehende tatsächlich den Eindruck: „Du wärst es besser nicht geblieben!“ Das Festhalten an falscher Loyalität, vor allem Loyalität mit der Herkunftsfamilie oder in der Partnerschaft, ist eines der häufigsten und massivsten Hindernisse für echten Therapiefortschritt. Wie eine Mauer aus Beton.
Eine Mutter, die ihren Sohn zum Partner macht, ihn sogar bis ins Erwachsenenalter mit ins Bett nimmt, oder ein Vater, der sich die Tochter als Partnerin gewählt hat (wir schließen hier für beide Fälle sexuellen Missbrauch im engeren Sinn aus, da dies die Lage zu eindeutig erscheinen ließe). Eine Mutter, die ihre Tochter, die längst in der Grundschule ist, immer noch stillt, oder ein Vater, der seinen Sohn als „besten Freund“ behandelt und damit die Generationengrenze verwischt, ihn in Ehegeheimnisse oder auch außereheliche Geheimnisse einweiht. Eine Mutter, die ihrem Sohn immer wieder vermittelt: „Du bist mein Ein und Alles!“ Oder ein Vater, der seiner Tochter sagt: „Wenn Du nicht wärst, wäre ich schon längst fortgelaufen …“ oder krasser: „… hätte ich mich schon umgebracht!“
Krass heißt leider nicht: selten. In der Therapie begegnen uns ständig derartige Konstellationen. Wichtig: Es geht uns nicht um gesellschaftliche Normen! Die moralische Empörung, die wir als Außenstehende manchmal spontan empfinden, wenn wir solche Lebensgeschichten hören oder lesen, macht es für die Patient*innen noch schwerer sich zu öffnen. Es muss ganz klar sein: Wir wollen niemand an den Pranger stellen, selbst wenn wir den (zutreffenden) Begriff von Missbrauch verwenden.
Intergenerationelle Partnerschaft oder Freundschaft, wie hier skizziert, gehört zu jenen Formen von emotionalem Missbrauch, die am schwersten zu behandeln sind. Weil alles erstmal nach großer Liebe aussieht! Im Bild von der Mauer der Loyalität: das ist Stahlbeton. Ist es nicht Liebe, wenn die Mutter die Tochter zur „besten Freundin“ kürt? Das hängt vom Alter der Tochter ab. Liebe kann nur das sein, was der Entwicklung des Kindes zum reifen Erwachsenen dienlich ist. Wenn das Kind in Geheimnisse eingeweiht, für Bedürfnisse der Erwachsenen oder auch für Bündnisse benutzt wird, die es im Dreiecksverhältnis zum Vater etwa, überfordert, ist es Missbrauch.
Betroffene tun sich sehr schwer damit, dies so klar zu sehen. Wie bei anderen Formen von Missbrauch spielt dabei teilweise eine Rolle, dass das Kind bzw. die spätere Erwachsene z.B. die Aufwertung zur Freundin oder Partnerin phasenweise attraktiv fand oder darin ihre wahre Bestimmung sah und sich dementsprechend für „mitschuldig“ hält. Die Liebe, in der sie gefangen sind, jetzt aufzukündigen, fühlt sich für viele wie Verrat an.
Nur wenn es uns gelingt, glaubhaft zu vermitteln, dass es nicht um Schuld geht, dass wir in der Therapie nicht auf der Suche nach dem Schuldigen für ihre psychischen Probleme sind, besteht eine Chance, dass sie einen Perspektivwechsel vollziehen und die pathologische Loyalität aufkündigen. Es gibt aber leider schwerwiegende Gründe, warum sie den Schritt vielleicht doch nicht gehen. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass wir diese pathologischen Konstellationen bei Patient*innen mit Störungen von eher schlechter Prognose begegnen, z.B. chronifizierte Anorexie oder abhängige Persönlichkeitsstörungen.
Viele Betroffene kennen ihre eigenen Bedürfnisse gar nicht, finden keinen Sinn im eigenen, erwachsenen Leben. Und Sie fürchten die doppelte Scham: sich zu zeigen mit etwas tiefer Krankhaftem als „nur“ Depression und gleichzeitig dabei einen wichtigen Familienwert bzw. eine jahrtausendealte Norm zu verletzen. „Du sollst Vater und Mutter ehren!“ Noch schlimmer, als sich für das Eigene zu schämen, scheint für viele, die Eltern „bloßzustellen“. Auch da müssen wir als Therapeuten mit spontanen Gegenreaktionen sehr vorsichtig sein, etwa: „Eigentlich müssten sich doch die Eltern schämen …“ Dies ist ja genau das, was das Kind ihnen ersparen will.
Die pathologische Loyalität gegenüber den Eltern („das Nest nicht beschmutzen“) muss aufgeben werden, damit die Patienten zu einer echten Loyalität gegenüber sich selbst kommen, die kindlichen Anteile entdecken, annehmen und mit Verständnis versorgen: „Ach, genau, so hast Du Dich gefühlt, als …“ Der erwachsene Patient vermittelt seinem inneren Kind, dass er es nicht im Stich lässt. Andernfalls führen dieses Kind und seine ungestillten Bedürfnisse weiter ein Geisterleben, z.B. mit Auswirkungen auf die aktuellen Beziehungen.
Die Auflösung des Tabus („Du sollst Vater und Mutter ehren!“) und das Erlernen eines tabufreien Denkens kann nur gelingen, wenn die Klienten uns vertrauen. Wir vermitteln in vielen Fällen, dass Vater und Mutter – trotz allem – das Beste gegeben oder versucht haben (auch wenn es manchmal gar nicht so wirkt) und dass sie selbstverständlich geehrt werden können trotz ihrer z.T. weitreichenden Fehler.
Ich habe in diesem Blog gelegentlich über meine Eltern geschrieben, ziemlich positiv, sie als Vorbilder dargestellt. Das musste ich nicht erfinden, weil ich es so erlebe. Auf der anderen Seite, wo ich selbst in Therapie bin, geht es darum, was ich als kleiner Junge gebraucht hätte und nicht ausreichend bekam. Im geschützten Rahmen der Therapie konnte ich diese andere Wahrheit erforschen: z.B. dass mich meine Mutter nicht richtig „bemuttert“ hat – mit Begeisterung und emotionaler Wärme; dass sie überfordert und mich ganz gerne mal los war. Bis heute kann ich Spuren davon in meinem eigenen Beziehungsverhalten wahrnehmen, von der fast verzweifelten Suche nach Bemutterung bis zu der panischen Angst, in eine solche kindliche Rolle oder „Falle“ zu geraten. (Interessant dürfte für manche Leser*innen sein, dass ich viele Jahre im Leben und in der Therapie meinen dominanten Vater für das prägendste Problem hielt und die Mutterthematik völlig übersehen habe, obwohl diese nicht einmal ein Geheimnis war.)
Ein anderes, persönliches Beispiel, und das ist ebenfalls verbreitet, wäre die „Dysfunktionalität“ der elterlichen Ehe. Man kann es nicht oft genug sagen: In der Therapie denken wir zu oft, wenn es darum geht, was in der Kindheit schief lieg, an die Eltern-Kind-Beziehung, an die „Erziehung“, aber häufig besteht die noch größere Bürde für die Kinder in der defizitären Partnerschaft der Eltern.
Meine Eltern haben sich oft nicht verstanden, in Bezug auf uns Kinder schon, aber nicht als Paar. Sie konnten sich beide nicht das geben, was sie gebraucht hätten. Das ist Tragik. Die daraus resultierende depressiv-enttäuschte Stimmung war vermutlich ein wesentlicher Faktor, dass ich unser Haus immer als zu klein für so viel „dicke Luft“ empfand (dazu kam noch die dicke Luft mit den väterlichen Großeltern im Haus). Zuerst habe ich jahrelang geschaut, dass ich so viel wie möglich draußen war; später, nachdem ich in der Schule „sitzengeblieben“ war, habe ich mit gnadenlosem Pauken für die Schule und mit exzessivem Gitarrespiel bis an die Schmerzgrenze mir eine eigene Welt versucht zu basteln, mich gegen den emotionalen Blues des Hauses zu immunisieren. Das hat mich bis heute geprägt, mich in gewisser Weise sogar stark gemacht – das Gute am Schlechten –, aber hatte auch seine Schattenseiten.
„Im Vergleich zur großen Mehrheit der Patienten hatte ich es doch gut …“ Genau das ist eine sehr effektive Schranke (weil z.B. der Vergleich mit Kindern aus Familien mit Gewalt und Drogen immer „zieht“), die viele Patienten auf keinen Fall öffnen wollen. Ein Schutz vor Scham und Schmerz, der uns aber hinter der Schranke, d.h. in der Depression gefangen hält. Ja, die Eltern haben ihr Bestes gegeben. Therapie hat mit der Tragik zu tun, dass dies oft für uns Kinder doch nicht gut genug war – und wir uns deshalb bis heute immer wieder nicht gut genug fühlen.
Nehmen wir noch ein Beispiel, das weniger nach Missbrauch klingt: Eltern haben ihre Tochter – unsere Klientin – nicht studieren lassen. Sie waren „einfache Leute“, die das Leben lang hart gearbeitet haben. Und sie wollten das Beste für ihre Tochter. Es ist gut nachvollziehbar, dass die Tochter es ihnen nicht zum Vorwurf machen will (obwohl die Gesellschaft in den 1970er Jahren im Großen und Ganzen schon weiter war …). Doch die Tochter hat zeitlebens das Gefühl, sich auf der Suche nach „Ersatz“ fürs Studium zu befinden. Und ihr kindlicher oder jugendlicher Anteil leidet immer noch unter dem Unverständnis, dass ihre Eltern nur von ihren Bedürfnissen und Vorstellungen ausgingen. Sie arbeitet (aus unserer Therapeutensicht) vieles von dem unterdrückten Schmerz an falschen Stellen, z.B. der Arbeit und den Vorgesetzten ab. Die Aufgabe der bedingungslosen Loyalität ist unverzichtbar, wenn sich daran etwas ändern soll.
Wir können nicht gegenüber unserem inneren Kind loyal sein, es bedingungslos annehmen und verstehen, und gleichzeitig versuchen, Mutter oder Vater gegen die Erfahrung des Kindes zu verteidigen. Als Kind konnte ich nicht erkennen, dass sie ihr Bestes gaben, ich konnte nicht verstehen, warum sie nicht in der Lage waren, mich in meinen Bedürfnissen angemessen zu versorgen. Und darum geht es.
Es ist immer wieder faszinierend, wie loyal viele Patienten gegenüber Vater und Mutter selbst dann bleiben, wenn diese Ihnen sogar im fortgeschrittenen Erwachsenenalter noch das Leben sehr schwer machen! Das ist keine Liebe zu den Eltern, sondern vor allem Angst vor Veränderung, Konflikten, Scham. Wirkliche Liebe ist nur dort möglich, wo wir die bedingungslose Loyalität aufgegeben haben!
Ist das auch in der Partnerschaft so? Ich weiß es nicht sicher. Loyalität in der Partnerschaft ist prinzipiell ja eine gute Sache, nur in der Therapie manchmal sehr hinderlich: Die Betreffenden ahnen, dass es ihren Partnern „gar nicht recht“ wäre, wenn über sie gesprochen würde. Das kann ich sehr gut verstehen. So lässt sich erklären, wieso wir z.B. in der klinischen Therapie vom täglichen intensiven Kontakt der Partner abraten, sonst wird das Band der bedingungslosen Loyalität jeden Tag neu geflochten. Verständlich, aber vielleicht auch verhängnisvoll. (Dafür kann der Partner gerne zum Paargespräch kommen, um zu sehen, dass es uns nicht darum geht, Partei zu ergreifen! Siehe dazu meinen Text zu Grundlagen der Paarberatung.)
Denken wir etwa an einen Patienten, der zunächst immer nur Gutes von seiner Partnerin berichtet und sie vielleicht sogar in höchsten Tönen lobt: Wie sehr sie ihm den Rücken stärkt in der beruflichen Krise und ebenso in der Auseinandersetzung mit seinen Eltern usw. Im Laufe der Therapie wird allerdings immer deutlicher, dass auch in der Partnerschaft einige Probleme bestehen, u.a. in der sexuellen Intimität. Darf der Patient dieses schambehaftete Geheimnis überhaupt lüften? Ich meine: ja. Aber ich werde ihn nicht „pushen“.
Ich empfehle immer das therapeutische Tagebuch als den besten Vertrauten, dem man alles erzählen kann – und dann mal prüfen, ob es gut täte, mit mir als Therapeut etwas davon zu teilen. Muss der Patient dann dieses „Verraten“ (Verraten und Verrat liegen da gefühlt nah beieinander) später seiner Partnerin berichten? Ich weiß es nicht. Auf Dauer sollte er m.E. mit mir kein Geheimnis gegenüber der Partnerin haben.
Allerdings gibt es auch das Phänomen, dass Patienten die Loyalität bzw. das vermeintliche Schweigegebot als einen Vorwand „nutzen“ (Vorwand klingt etwas zu sehr nach Manipulation, da es oft unbewusst geschieht): Sie projizieren ihre eigenen Ängste, etwas offenzulegen, was schambehaftet ist, etwa die sexuellen Probleme mit der Partnerin, auf die Partnerin und deren Wunsch nach Verschwiegenheit. Die Flucht in die Loyalität ist nur eines der Argumente für ein zumindest einmaliges Paar- bzw. Angehörigengespräch beim Therapeuten: eine andere Perspektive einholen und vielleicht auch eine Erlaubnis.
John Bradshaw, Familiengeheimnisse: Warum es sich lohnt, ihnen auf die Spur zu kommen, München (Goldmann), 1999/2014