Was ist Therapieerfolg? Wenn wir diese Frage nicht aus der Perspektive des Gesundheitssystems stellen – wo öffentliche Gelder ausgegeben werden, muss es eine stichhaltige Begründung geben, dass diese Investition sinnvoll ist – sondern aus der Sicht des Patienten bzw. der Patientin, so werden wir sagen: „Das können Sie am Ende nur selbst beantworten.“
Patienten verbinden mit Erfolg spontan oft in erster Linie, dass sie etwas „loswerden“ könnten (Schmerzen, Ängste, Trauer, das Trauma, ihre Depressionen). Zum einen ist dieses Bild vom Loswerden problematisch, vor allem wenn das Loswerden zur Bedingung für ein besseres Leben gemacht wird. Zum andern: Und was wäre dann? Woran würden wir es merken, dass Sie „geheilt“ sind?
Es gibt eine „Definition“ von Therapieerfolg aus der Systemischen Therapie. Erfolg bedeutet demnach, im Verlauf der Therapie
- MEHR von dem machen, was funktioniert UND gut tut
- WENIGER von dem machen, was ENTWEDER nicht funktioniert ODER nicht gut tut
- IMMER öfter Neues wagen
Die ersten beiden Punkte wirken verblüffend einfach. Es wirkt so, als müsste man nur mal alles, was man so macht, ordentlich sortieren und entsprechend damit umgehen. Es dauert aber nicht lang, dann merken es aber alle Klientinnen und Klienten, dass diese beiden Punkte nur einfach scheinen, jedoch keinesfalls sind – sonst hätten sie es doch intuitiv längst im Leben beherzigt. Warum tun sie es nicht? Meist lautet die Antwort: Sie vermeiden Konflikte! Manche vermeiden innere Konflikte und haben dafür umso mehr im Außen, andere vermeiden äußere Konflikte und müssen daher umso mehr mit inneren herumschlagen, diese unterdrücken und verdrängen und werden darüber depressiv.
Was uns auf die Straße des Erfolgs führt, ist in vielen Fällen eine Art von Konflikttraining, ob das mehr beratungsmäßig und alltagsbezogen, oder mehr therapeutisch, tiefgreifend und aufdeckend stattfindet, ist individuell zu prüfen. Der Klient sollte in jedem Fall nicht nur Erkenntnisse gewinnen, sondern mit Aufgaben für die Zeit zwischen Therapiesitzungen daran gewöhnt werden, dass er oder sie tatsächlich Experte für sein Leben ist – und dass wir Therapeuten nur Hilfe zur Selbsthilfe leisten.
Das Wörtchen „Selbst“ steht tatsächlich im Mittelpunkt der Therapie, sie sollte die Möglichkeiten der Selbststeuerung oder Selbstregulation und Selbstfürsorge erweitern und stärken. Sie dient der Stabilisierung des Klienten, sowohl in der Klinik als auch im ambulanten Setting. Manchmal geht sie deutlich darüber hinaus, aber oft sind die Erwartungen an weitergehende therapeutische Interventionen (v.a. auf Seiten des Klienten) überzogen und wir können als Therapeuten froh sein, wenn wir an der Basis „Selbstregulation und Stabilisierung“ einiges erreichen können.
Ein realistischeres Bild vom Leben – und vom Heilungsprozess – zu erarbeiten, tatsächlich ist dies oft eine wesentliche Aufgabe der Therapie. Ein Teil der Patient:innen versteht unter Realismus vernichtende Selbstkritik und tiefsten Pessimismus (aus einem mangelnden Gefühl für die eigenen Ressourcen, also mangelhafter Selbstwirksamkeit), ein anderer Teil droht unter den gleichen Therapiebedingungen die innere Führung völlig an die inneren Träumer abzugeben; das ist gerade bei Therapie in der Klinik nicht ungefährlich, wenn die Betreffenden mit entsprechend angewachsenen Illusionen entlassen werden sollten.
Therapie dient zwar schon auch dazu, die Lebensträume aus der Versenkung zu holen, die bisher mit dem depressiven Motto „bassd scho“ verdrängt wurden, sie soll immer wieder Mut machen und Zuversicht schöpfen, dass Schritte zur Lebensverbesserung möglich sind – ohne sich aber in den Dienst unrealistischer Heilserwartungen zu stellen (etwa wenn die 55-jährige Patientin wieder so fit und fröhlich wie mit 25 werden oder alles Schwere aus dem Leben verbannen möchte).
Wir wollen den dritten Punkt nicht vergessen: Zum Therapieerfolg gehört die gewachsene Einsicht und der gesteigerte Mut, das Neue immer öfter zu wagen, dabei auch Risiken einzugehen (frustriert zu werden). Vermutlich ist das der tiefgreifendste Punkt unserer Agenda: die generelle Angst vor dem Worst Case bzw. dass es „bestimmt wieder daneben geht“ Schritt für Schritt durch eine Art Neu-Gier zu ersetzen. Von Virginia Satir stammt der Tipp, bei bevorstehenden Herausforderungen mindestens an drei mögliche positive Ausgänge zu dem negativen, der uns meist sofort einfällt, zu denken oder diese zu erfinden. Ja, wir dürfen Schlimmes befürchten, das kann manchmal ein wesentlicher Schutz sein oder zu notwendigen Vorkehrungen führen, wir müssen aber auch Gutes für möglich halten!
Das Neue willkommen zu heißen – bis Klienten dahin kommen, erfordert es oft intensive Arbeit mit den inneren Anteilen, die das nicht wahrhaben oder gar verhindern wollen. Wenn es gut läuft, bemerkt der Klient allerdings, dass diese Arbeit keine Strafe, sondern eine Chance ist und häufig trotz aller Therapieschmerzen auch Freude macht. Dies ist definitiv ein Aspekt des Therapiererfolgs: die Arbeit an sich selbst nicht länger als lästige Pflicht („es geht ja nicht so weiter“), sondern als freiwillige Ent-Deckungs-Reise zu verstehen („ich will und kann es besser haben“).
Das führt zu der Frage, wie nachhaltig Therapieerfolge sein müssen, um als Erfolge gelten zu dürfen. Wenn es der Klientin „unter der Therapie“, klinisch oder ambulant, zeitweise besser geht, ist dies auf jeden Fall ein Erfolg. Eine dauerhafte „Heilung“ wie bei einem Beinbruch oder eine Infektion ist in den meisten Fällen unrealistisch, es sei denn dauerhaft glückliche Lebensumstände tragen dazu bei, dass sich die lebensförderlichen Seiten des Klienten stärker entwickeln können.
Wenn ich von mir selbst (als Patient) ausgehe, so muss ich feststellen, dass in schwierigen Lebensphasen (Krisen) und Herausforderungen immer wieder altbekannte Ängste, Selbstzweifel und depressive Verstimmungen hochkommen. In der Regel kann ich besser damit umgehen als vor der eigenen langjährigen Therapie, und dennoch frage ich mich manchmal: „(Wann) brauche ich wieder Therapie?“ Da ich zu Therapie grundsätzlich ein positives Verhältnis habe 😉, werde ich mir immer mal wieder ein paar Stunden gönnen, selbst wenn ich vielleicht alleine „irgendwie“ zurechtkäme. Ich kann aber nicht ausschließen, auch in solche Not zu kommen, dass ich Therapie benötige – und bin dankbar, diese Option bzw. diesen Plan B zu haben. Therapieerfolg kann aus Sicht des Patienten, als Glaubenssatz formuliert, auch lauten: Ich übernehme Verantwortung für mein Leben UND ich darf Hilfe in Anspruch nehmen.