S wie Selbstwert

Meinem Vater, Willfried Wagner (21.07.1925-16.10.2011), zum 100.Geburtstag gewidmet.

In unserem Leben gibt es immer wieder Situationen, wo unser Selbstwert einer Prüfung unterzogen wird: Andere sind besser, jünger, stärker, erfahrener, leistungsfähiger, mutiger – sie werden uns vorgezogen oder sie stellen uns selbst in Frage. Das ist an sich nicht schlecht oder gut, eher unvermeidlich und vermutlich sogar gut für die Lebenstauglichkeit. Eine gewisse Unsicherheit bezüglich des Selbstwerts oder sogar die Angst, nicht gut genug zu sein, gehört zum Leben. (Es sei denn, man ist größenwahnsinnig, und da sieht es mit dem Selbstwert im tiefsten Kern meist ganz düster aus: ein sog. Narzissmusproblem.)

Entscheidend ist, wie sehr die Selbstunsicherheit unser Leben bestimmt. Menschen, die eine depressive Episode durchleben, kämpfen meist mit Selbstwertproblemen, auch wenn durch die depressive Unterdrückung dies gar nicht bewusst erlebt wird. Der Verlust an Selbstwert ist leicht nachzuvollziehen bei Patienten, die mit einer Art Burnout-Symptomatik in Therapie kommen: sie leiden in der Regel unter Folgen eines Anerkennungsdefizits. Ebenso liegt bei jenen Patientinnen, deren Depression vor allem damit zu tun hat, dass sie wesentlichen Konflikten in ihrem Leben aus dem Weg gehen (z.B. mit Eltern, Partner, Arbeitgeber) bzw. versuchen, diese Konflikte zu verdrängen, letztlich eine Selbstwertthematik zugrunde: „Bin ich wichtig genug; darf ich mir das herausnehmen …?“ Nicht zuletzt sind auch jene Menschen von Selbstwertverlust betroffen, die unter sozialen Ängsten leiden, wobei zunächst nebensächlich ist, ob die sozialen Phobien als Folge von Depressionen und sozialem Rückzug auftraten oder umgekehrt eine Ursache der Depression waren. 

Häufig ist Selbstwert das einzig „echte“ therapeutische Thema unter den Themen, die der Patient mitbringt: Wer vom Partner verlassen wurde, in der Schuldenfalle steckt, von den Eltern enterbt oder von den Geschwistern betrogen wurde, wer den Arbeitsplatz verloren hat usw. – der oder die braucht sicher Unterstützung, aber … Was daran lässt sich eigentlich durch Therapie verbessern? Manchmal auf absehbare Zeit nur der Selbstwert. Viele Therapeuten arbeiten tatsächlich in dem Bewusstsein, das „Aufbauen“ des Patienten sei die Hauptaufgabe. Was denn sonst?

Der stationäre Behandlungsrahmen einer Klinik bietet dafür ein ideales Umfeld, da sich mit dem Leben in einer Patientengemeinschaft viele Optionen zur Selbstwertsteigerung verbinden. Dieses „Setting“ kann Patienten helfen, ihre Muster zu erkennen und schädliche Gedanken durch hilfreiche zu ersetzen – um dann unter guten Bedingungen neues Verhalten auszuprobieren und zu festigen. Entscheidend dabei ist, dass die Therapie sich nicht mit Erkenntnissen zufriedengibt, sondern immer nach dem nächsten Verhaltensschritt fragt und darauf zielt. Als Therapeut müssen wir unsere Patienten ermuntern, Schwellen zu überwinden und Risiken einzugehen, um positive Erfahrungen zu machen und mit weniger positiven Erfahrungen umgehen zu lernen.

„Man kann sich seinen Selbstwert als Mensch nicht verdienen.“ Das klingt zunächst einmal nach einer schönen Antithese zu dem üblichen Muster sehr vieler Menschen, insbesondere die von der Art, wie sie in psychosomatischen Kliniken „landen“: Sie rackern sich ab für die Anerkennung durch andere, um ihren eigenen Wert zu spüren und zu erhalten. Doch nur weil der Satz so schön humanistisch klingt und von einer sympathischen Haltung zeugt – alle Menschen sind lebens- und liebenswert –, muss er ja nicht zutreffen. Und selbst wenn er auf einer philosophischen oder spirituellen Ebene gelten mag, was nützt es im Alltag? Wenn man alle meine sozialen Ressourcen, das, was mich sozial nützlich und beliebt macht, „abzieht“, inwiefern bin ich dann noch wertvoll und liebenswert? Ich sage es zwar immer wieder zu Patienten und mit voller Überzeugung: „Sie müssen nichts leisten, sie sind gut genug.“ Aber an manchen Tagen glaube ich es in Bezug auf mich selbst auch nicht.

Selbstwert und Leistung haben schon eine Beziehung: Viel Großartiges kommt in die Welt, weil Menschen ein gesundes oder starkes Selbstbewusstsein haben. Auf der anderen Seite, und das ist die mehr therapeutische Sicht, gibt es Menschen, die ihren Selbstwert nur spüren können, wenn sie Großes leisten – ein tieferes, stabiles Selbstwertgefühl könnte sich dann erst etablieren, wenn etwas nicht von Erfolg gekrönt ist, wenn sie scheitern. In der Therapie geht es jedenfalls darum, die zum Teil sehr enge Verbindung von Leistung und Selbstwert zu lockern, denn wenn dieser allein auf jener beruht, ist er immer in Gefahr.

Einen hohen Selbstwert empfinden, wer ist dazu in der Lage, wenn ihm oder ihr (scheinbar) gar nichts gelingt, wenn sie (gefühlt) sowohl im Arbeitsleben wie in Beziehungen und Partnerschaft als auch im Umgang mit der Familie scheitern? Etwas Selbstwert erfahren die Betroffenen dann in der Therapie durch die empathische Zuwendung. Etwas später gilt es den Blick darauf zu lenken, was bereits gelungen und wozu die Patientin jetzt in der Lage ist. In diesem Sinn dient alle Psychotherapie, ob ambulant oder stationär, der Stärkung des Selbstwerts. Es ist immer eine Mischung aus Empathie, Mobilisierung von Ressourcen, Stärkung der Eigenverantwortung. Im stationären Rahmen, speziell wenn es um Gruppentherapie geht, steht für viele Patienten ein Training von Kontakt-, Beziehungs-, Kommunikations- und Konfliktfähigkeiten im Vordergrund.

Man könnte das Thema Selbstwert auch an der Arbeit mit dem inneren Kind aufziehen: Wie gelingt es den Patienten, erwachsen(er) zu agieren, selbst für das innere Kind zu sorgen, ihm in Krisensituationen das fundamentale „Willkommen“, das verbriefte Gut-Genug-Sein selbst zu vermitteln. Hierzu gibt es ganz verschiedene Ansätze, ich z.B. mag die Welcome-Work von John Bradshaw: mit Briefen und Sprüchen im Kontakt sein mit dem inneren Kind; man kann auch in einer Art Aufstellungsarbeit mit „idealen Eltern“ und dem, was es früher gebraucht hätte, arbeiten.

Am Ende geht es darum zu lernen, das Kind selbst an die Hand nehmen, um neue Verhaltensmuster in den alltäglichen Herausforderungen (zunächst den Herausforderungen des Klinikalltags) zu erproben. Manchmal bedeutet dies auch, ein Bewusstsein für eigene Werte, nach denen man leben möchte, zu entwickeln. Solange wir uns nur gut fühlen, wie wir „ein guter Junge“ oder „ein braves Mädchen“ sind, also die Erwartungen und Werte unserer Eltern erfüllen, ist der Selbstwert eben beschränkt – und ich habe im Laufe der Jahre schon viele Patient*innen kennengelernt, die sich bis ins Rentenalter bemühten, primär ein guter Junge oder ein braves Mädchen zu sein und insofern nicht wirklich erwachsen werden.

„Sie haben ja gut reden …!“ Das höre ich ab und zu. Noch häufiger sage ich es selbst und proaktiv: „Ich habe ja, wie Sie wissen, gut reden …!“ Denn es stimmt. Das liegt in erster Linie an meiner Rolle als Therapeut: In der Psychotherapie muss der Patient die Schwerstarbeit schaffen, und der Therapeut hat eben, vereinfacht gesagt, gut reden.

Es liegt nicht daran, dass wir Therapeuten generell keine Probleme hätten. Unter Depressionen und Ängsten habe ich mein Leben lang immer wieder gelitten, vermutlich nicht so gravierend und anhaltend wie viele „meiner“ Patienten, das hat möglicherweise damit zu tun, dass ich es mit dem Selbstwert einfacher habe, was ich wiederum zu großen Teilen meinen Eltern verdanke. Und doch: Der Selbstwert kann auch bei mir erheblich schwanken, je nach Thema und je nach Gegenüber und Rahmenbedingungen. So habe ich mich sowohl bei manchen Arbeitsstellen anfangs als „Zweite Wahl“ empfunden, als auch in manchen Freundschaften und intimen Beziehungen, da hatte ich den Eindruck, ich musste mir den Wert erst durch Einsatz verdienen. Außenstehende, inklusive meiner Therapeutin 😊, haben die Sache mit der zweiten Wahl als Unsinn eingestuft. Rational konnte ich das nachvollziehen, aber „gefühlt“ … das will immer wieder gelernt sein: Auch wenn ich gerade etwas selbstunsicher bin (z.B. als Heilpraktiker unter Ärzten), bin ich nicht „minderwertig“.

Die z.T. krasse Differenz zwischen Außen- und Selbstwahrnehmung ist ein typisches Selbstwert-Phänomen! Viele Patientinnen mit Essstörungen z.B. leiden unter ziemlich niedrigem Selbstwert – und das obwohl ihre Mitpatientinnen ihnen oft (sehr) hohe Werte zutrauen. Bei Menschen mit starkem Übergewicht (Adipositas II oder III) und bei solchen mit Bulimie (Ess-Brech-Sucht) hat der niedrige Selbstwert mit einer sehr alten bzw. jungen Scham zu tun, nicht gut genug zu sein; bei von klein auf adipösen Menschen auch mit Mobbing-Erfahrungen; bei den bulimischen Patientinnen kommt, wenn sie sich noch nicht (vollständig) geoutet haben, die Scham wegen der Symptomatik selbst hinzu. Beiden Patientengruppen ist oft gemeinsam, dass sie über eine starke Sozialkompetenz verfügen und manchmal auch einen Sozialberuf ausüben, darauf allein kann man zwar keinen Selbstwert aufbauen (z.B. wenn die Betreffenden auch mit 35 noch nie eine Partnerbeziehung hatten), aber es ist besser als nichts für den Selbstwert und lässt sich ausbauen.

Bei magersüchtigen Patientinnen (Anorexie) liegen die Dinge etwas anders, der von außen als „verrückt“ erlebte Selbstwertaufbau durch Hungern und Kontrolle kann mit der Illusion (aus Vergangenheit oder Gegenwart) zu tun haben, ohne die Symptomatik nicht genug gesehen oder gehört zu werden, aber auch mit dem Verharren in einer kindlichen (regressiven) Haltung: Wer fürs Sich-klein-machen immer wieder Zuwendung, also Belohnung erfahren hat, will nicht unbedingt erwachsen werden oder traut es sich nicht zu. Daher „darf“ der Selbstwert gar nicht wachsen.

Bulimische und anorektische Patientinnen haben wiederum oft die Gemeinsamkeit (das betrifft natürlich nicht alle!), dass sie sich für gewisse Anlässe sehr herausputzen und, wie ein alter Systemtherapeut einmal sagte, gut „flirten“ können, sogar mit Therapeuten, so dass ihnen von außen viel Selbstbewusstsein unterstellt wird, sie werden beneidet – verfügen jedoch keineswegs über einen entsprechend hohen Selbstwert. Dennoch können diese Ressourcen auch hilfreich sein, um Selbstsicherheit, Selbstbewusstsein und Selbstwert aufzubauen.

Wie lässt sich der Selbstwert steigern? Da hilft der Satz „Man kann sich den Selbstwert nicht verdienen“ als Arbeitshypothese für therapeutische Arbeitsaufträge. Er kann z.B. die Grundlage eines Experiments werden, wenn Patienten, die ständig anderen helfen, um ihren Selbstwert zu verdienen (das ist übrigens nicht das einzige Motiv für ein „Helfersyndrom“), sich verpflichten, eine Zeit lang „abstinent“ zu bleiben von solchen Bemühungen.

Besonders fatal ist das Bemühen, sich seinen Wert zu verdienen, wenn es sich auf einzelne Adressaten richtet: wenn ich mich von einzelnen Mitmenschen emotional abhängig fühle und abhängig mache, indem ich sie mit meiner Hilfe binde und vielleicht selbst abhängig zu machen versuche. Diese Konstellation entspricht in einigen wesentlichen Aspekten der Situation des kleinen Kindes, das von seinen Bezugspersonen abhängig ist und, wenn es nicht erfahren durfte, was bedingungslose Liebe ist, versucht, sich die Ersatzwährung „Anerkennung“ zu verdienen. Viele Patienten befinden sich nach meiner Erfahrung noch im fortgeschrittenen Erwachsenenalter in einer solchen Situation, oft sogar gegenüber den leiblichen Eltern, warten bis zu derem letzten Tag darauf und tun fast alles dafür, endlich Anerkennung und Liebe zu erfahren. Man kann die Konstellation aber auch reinszenieren, indem man mit seinem Lebenspartner eine solche Beziehung „pflegt“.

Es kann weiter passieren, dass Betroffene großartige Leistungen erbringen und viel Anerkennung erhalten – und sich dennoch minderwertig fühlen! Vielleicht oder zum Beispiel, weil fast alle es großartig finden, aber die Patientin immer noch auf die Anerkennung durch den Vater wartet … Hier geht es wieder darum, erwachsenes Verhalten (hier: die Selbstanerkennung) zu fordern und zu fördern.

Selbstwert setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen, die in enger Beziehung zu den psychischen Grundbedürfnissen Bindung, Autonomie, Anerkennung und Identität (Zugehörigkeit) zu stehen scheinen: Da ist die Selbstliebe, die am einfachsten auf der primären Bindung gedeiht, dann das Selbstvertrauen, das auf gelingenden Erfahrungen mit Autonomie beruht – inwiefern kann ich mein Leben, speziell auch meine Beziehungen selbst gestalten? Die Sozialkompetenz und die reale soziale Integration sind ebenso wesentlich am Selbstwert beteiligt: nur im einsamen Kämmerlein vor dem Spiegel können wir durch noch so gutes Zureden keinen Selbstwert aufbauen, wir brauchen funktionierende soziale Beziehungen und Freunde.

Es lässt sich oft leicht erkennen, warum wenig Selbstwert da ist, aber es muss ein verändertes Verhalten daraus folgen. Das setzt voraus, und das ist der große Schritt, der oft in viele kleine aufgeteilt werden muss, dass der Patient bereit ist, sich überwiegend und in entscheidenden Momenten erwachsen zu verhalten und Eigenverantwortung zu übernehmen. Selbstwertsteigerung ist eine Praxis!

  • Das gilt zunächst für den Teilaspekt der Selbstliebe: sich bewusst machen, dass man sich wichtig ist und nimmt, positives Feedback von anderen wahrnehmen und integrieren, sich mehr vom Leben zu gönnen, zu sich selbst liebevoll und achtsam sein – von körperlicher bis seelisch-geistiger Pflege.
  • Das Selbstvertrauen bzw. das Gefühl für Selbstwirksamkeit steigern: Die Umgestaltung des Lebens und der eigenen Beziehungen durch gezielte, kleinschrittige Aufträge und Aufgaben erlebbar machen, dafür braucht der Patient zunächst häufig engmaschiges Coaching.

Einer der größten Fehler in der Therapie besteht darin, die Messlatte zu hoch und das Ziel zu groß zu wählen, beim Selbstwert gilt dies ganz besonders. Wenn eine Patientin z.B. mit der Selbstliebe bei 3 von 10 steht, sollte ich ihr selbst gestecktes Therapieziel: ein Wert von 9 oder 10, auf keinen Fall durchgehen lassen, da dies zu unnötig vielen Misserfolgen und Rückschlägen, damit zur Selbstabwertung führt. Auch da geht es um Eigenverantwortung und erwachsenes Verhalten: raus aus dem Schwarzweißdenken („entweder ich bin eine tolle Frau oder ich bin ein Nichts …“)!

Ich weiß, dass dies manchmal so klingt, als wolle der Patient nicht wirklich. So einfach ist es nicht. Es geht nicht um gute oder schlechte Patienten (d.h. jene, die wirklich wollen, versus die, die nicht wollen), doch wir müssen den inneren Widerstand dagegen, erwachsen zu agieren, konfrontieren: mit den Patienten gemeinsam auf diesen Widerstand schauen. Und wir müssen immer wieder: loslassen! Gerade bei der Selbstwert-Thematik (naja, eigentlich bei allen therapeutischen Themen) dürfen wir Therapeuten nicht in die Retter-Rolle einsteigen.

Für manche Menschen hat der geringe Selbstwert einen Nutzen, allerdings zu einem hohen Preis. Dies ist zum Beispiel so in emotional abhängigen Beziehungen, wo einer der tendenziell narzisstisch angebetete „Große“ und die Partnerin die „Kleine“ ist, die verhätschelt, umsorgt, aber auch bevormundet wird. Das bedeutet, dass es für die Betroffenen nicht nur schön ist, das „arme Hascherl“ zu sein, schließlich sind sie bei uns in Therapie und leiden unter der „Minderwertigkeit“. Doch eine solche Konstellation, wenn sie vielleicht schon Jahre oder Jahrzehnte besteht oder durch das Eltern-Kind-Verhältnis gebahnt wurde, kann Therapiefortschritte nachhaltig blockieren.

Manchmal scheint sich die Patientin in der stationären Therapie wider Erwarten in punkto Selbstwert zunächst sehr gut zu entwickeln, doch in der Woche, bevor es nach Hause geht, bricht sie wieder ein. Eine Variante davon zeigt sich, wenn mehrfach in die Klinik wiederkehrende Patientinnen dort relativ gut an alte Erfolge anknüpfen und selbstbewusst auftreten können – aber offensichtlich „draußen“ und zu Hause wenig davon umsetzen. Das ist sicher besser als nichts: die Erfahrung, unter guten Bedingungen sich besser zu fühlen. Es könnte ein Hinweis daraus sein, dass sie ihr übliches Umfeld zu Hause zugunsten besserer Bedingungen verlassen sollten; was sich allerdings aus stationärer Perspektive gar nicht so leicht beurteilen lässt. Wir sollten auf jeden Fall, ohne Retter zu werden, „alles“ dafür tun, dass unseren Patientinnen mehr gelingt – und dass sie nicht gar so viel vom Gelingen abhängig machen. Verrückt, oder?

Mit dem Selbstwert verhält es sich so: Wenn wir ihn am dringendsten brauchen (weil alles schief geht), ist er verschwunden. Und wenn er da ist (weil einiges oder vieles klappt), schenken wir ihm kaum Beachtung. Denken Sie ab und zu mal bewusst daran, was alles klappt! Es geht beim Selbstwert nicht darum, dauerhafte Maximalwerte zu erzielen, das wäre eher verdächtig, sondern einen Wert, der stabil und gut genug ist, um mit Situationen der Selbstunsicherheit erwachsen umzugehen.

PS. Als mein Vater nicht mehr vernünftig Geige spielen, keine Führungen in Kirche und Kellerei mehr halten, nicht einmal mehr überzeugend Gedichte rezitieren konnte, da war ihm im Alter von 85 Jahren ziemlich viel Selbstwert abhanden gekommen. Als altes klappriges Männlein konnte und wollte er sich nicht sehen und – so habe ich es erlebt – das hat seinen Lebenswillen ziemlich untergraben. Man nennt es wohl Altersdepression, ein Wechselspiel von körperlichen und seelischen Faktoren. Warum können sich viele Menschen nicht auf ihrer Lebensleistung ausruhen? Darauf gibt es vermutlich mehr als eine zutreffende Antwort.