Heute soll es wie zuletzt beim „UND statt ABER“ nochmals um den Jargon der Therapie gehen. Patient*innen reagieren manchmal genervt, wenn ihr Therapeut das Wörtchen „man“ in ein „ich“ korrigiert. Manchen fällt es schwer, sich so wichtig zu nehmen. Andere haben Sorge, dass allein die mehrfache Verwendung von „ich“ als ein Zeichen von Egoismus gedeutet werden könnte. Wieder andere lernen, dass man es als braver Patient so machen muss und können nach zwei, drei Wochen Klinik flüssig „ich“ sagen, wo sie doch innerlich gerne „man“ sagen würden 😊. Geht es denn nur um einen korrekten Jargon oder was ist der tiefere Sinn dahinter? Da müssen wir tatsächlich etwas „tiefen“psychologisch werden.
Sigmund Freud, der Erfinder der Psychoanalyse und damit letztlich der modernen Psychotherapie ab ca. 1900, meinte erkannt zu haben, dass der Mensch von einem Grundkonflikt beherrscht wird: dem Konflikt zwischen ES und ÜBER-ICH. Das ES repräsentierte bei ihm den tierischen Aspekt, die Triebe, während ÜBER-ICH für die Normen und Werte der Gesellschaft oder zumindest die Normen unserer Bindungs- und Erziehungspersonen standen. Das ist die psychologische Version einer dualistischen Philosophie, nicht unbedingt ein Kampf von Gut und Böse, aber ein Ringen von Natur (Triebe) mit Kultur (Normen). Das Individuum, das ICH muss mit diesem Grundkonflikt klarkommen und daran wachsen. Der Preis des mehr oder weniger friedlichen Zusammenlebens der Menschen scheint zu sein, dass Triebe kontrolliert und der Konflikt zwischen Trieben und Normen ins Unbewusste verdrängt werden.
Heute sprechen wir weniger von Trieben und eher von Bedürfnissen und Impulsen. Im Prozess der Erziehung oder Sozialisation lernt das Individuum, dass es seinen Bedürfnissen nicht ohne Weiteres nachgehen darf: Dies „tut man nicht …“ und das „kann man erwarten …“. Das Kind verinnerlicht die Aussagen der Beziehungspersonen und Erzieher und folgt der teilweise trügerischen Illusion: Wenn man schön brav ist und alle Normen erfüllt oder noch besser übererfüllt, fällt als Belohnung auch etwas für die eigenen Bedürfnisse ab.
Der programmierte Misserfolg auf diesem Weg führt unweigerlich zu einer depressiven Neigung, aber auch zu unterdrückten Aggressionen, da das „Versprechen“ der Erziehung sich nicht bewahrheitet, aber die Betroffenen nicht gelernt haben, für die Bedürfnisse angemessen selbst zu sorgen. Sie warten gewissermaßen lebenslang darauf, dass Papi und Mami noch die ausstehende Belohnung ausschütten. Oder sie träumen davon, dass sich alle Menschen so (über-)angepasst wie sie selbst verhalten und es dann allen besser ginge. Sie reden über das, worauf sie keinen Einfluss haben: die Gesellschaft oder den Kapitalismus, den Arbeitgeber oder die Kollegen, die Nachbarn … Alle sind irgendwie „schuld“ daran, dass die Betreffenden zu kurz kommen. Und verdrängen so immer weiter, welchen Anteil sie selbst an der Misere haben. Burnout, Depressionen, Angststörungen, aber auch passive Aggressionen, Zynismus, heftige Projektionen und Mobbing können die Folge sein, wenn Menschen zu sehr auf der Seite des ÜBER-ICH, der Seite der Normen, der Seite des „man“ leben (was man tut und lässt).
Und was soll Therapie daran ändern? „Wo ES war soll ICH werden.“ Der berühmte Satz von Freud wird m.E. häufig missverstanden, so als hätte die Therapie zum Ziel, noch mehr die Triebe, also heute: Bedürfnisse, zu unterdrücken. Dabei kann man das Ziel der Psychoanalyse so verstehen, das ICH aus der Übermacht des ÜBER-ICH zu befreien – ein starkes ICH sollte in der Lage sein, eigene Wertesysteme zu bilden und zu vertreten und sich mehr vom ES, also den Bedürfnissen, zu eigen zu machen. Sowohl die traditionelle Psychoanalyse als auch die moderne Psychotherapie verstehen unter wachsender Ich-Stärke, dass der Patient in die Lage versetzt wird, mehr aus dem Leben herauszuholen, in diesem Sinne lebenstauglicher zu werden. Das bedeutet: dass er oder sie besser mit inneren und äußeren Konflikten umgehen lernt. Denn mehr aus dem Leben herausholen heißt, mehr Konflikte eingehen.
„Was passiert, wenn sie lernen, mehr für ihre Bedürfnisse zu sorgen?“ Auf diese Frage antworten Patienten häufig spontan (weil sie es für eine rhetorische Frage halten): „Naja, ich werde zufriedener.“ Das ist aber leider nicht sofort so, zunächst einmal werden sie mehr Konflikte erleben – und das Glück besteht vielleicht darin, die eigene Willensstärke zu spüren, im Stolz, für sich zu kämpfen, und eine Ahnung davon zu haben, was Selbstbestimmung ist.
Heute wird bei Therapie viel von „Arbeit mit dem inneren Kind“ gesprochen, was allerdings übersetzt bedeutet: (noch mehr) erwachsen werden, für sich selbst sorgen lernen und für die jüngeren Anteile, die wir inneres Kind nennen, zu den eigenen Bedürfnissen und auch zu eigenen Werten stehen, die das Kind noch nicht kannte. Dies ist zunächst mit Scham verbunden – dass ich mich zeige, wie mich andere bisher nicht gesehen haben oder sehen sollten. Dazu gehört, ja auch, dass ich z.B. mal das letzte Stück Kuchen oder Schnitzel nehme und es nicht allen anderen am Tisch aus sozialer Überanpassung aufschwatze; dass ich mal um 17 Uhr von der Arbeit nach Hause gehe und mich an dem Wettbewerb „wer verlässt als letzter Held der Arbeit das Büro“ nicht länger beteilige; dass ich selbst Papi und Mai mal einen „Korb“ gebe, da ich längst eine eigene Familie habe; und … und … und …
Die Angst vor der Scham, gerade im Umgang mit den alten Erziehungsinstanzen (Mami und Papi „vor den Kopf zu stoßen“) oder mit Freunden (mal Nein zu sagen und sie damit vermeintlich zu „verletzen“) hält viele lange davon ab, mehr ICH zu sein als MAN. Und die Angst, in Konflikten den Kürzeren zu ziehen, die Angst vor Frust und Enttäuschung. Daher bedarf es in vielen Fällen des Leidensdrucks durch wiederkehrende Depressionen, damit die Betroffenen merken: So geht es nicht weiter.
Es geht nur weiter, wenn sie zu ihren Gefühlen und Bedürfnissen stehen und die damit verbundenen Risiken eingehen. Daher muss nicht nur ICH werden, wo ES war, sondern es muss immer öfter ICH werden, wo MAN war. Das ist mehr als ein Sprachtraining, das ist praktische Verhaltenstherapie. Dass Andere, wie etwa die nächsten Angehörigen oder Arbeitskollegen, dies als Egoismus missverstehen können, muss in Kauf genommen werden. Letztlich ist jeder, der für sich selbst sorgt, ein Vorbild für andere. Denn nur wer sich selbst liebt, und zwar als eine Form der praktischen Selbstfürsorge, ist zu tiefer Nächstenliebe fähig: aus freien Stücken und aus Bedürfnissen heraus statt aus Anpassungsdruck und Normenhörigkeit. Dies ist im Übrigen auch das Ideal – oder, aufs Weltganze gesehen, wohl eher die Utopie – der Gewaltfreien Kommunikation.
PS. Ja, Normen und Werte sind eine gute Sache. Aber als Erwachsene muss ich sie wählen, statt mich blind zu unterwerfen. Das ist Verantwortung.